Leipziger Buchpreis für Kristine Bilkau

Lebenskrise im Watt

Die Hamburger Schriftstellerin Kristine Bilkau lotet in ihrem neuen Roman „Halbinsel“ den unsicheren Grund aus, auf dem heutige Lebensentwürfe errichtet werden.

An den Küsten steigt die Flut: Leuchtturm Westheversand auf einer Warft der Halbinsel Eiderstedt.

© IMAGO/Zoonar/IMAGO/Zoonar.com/Jürgen Wackenhut

An den Küsten steigt die Flut: Leuchtturm Westheversand auf einer Warft der Halbinsel Eiderstedt.

Von Stefan Kister

Ein verlängertes Wochenende mit Workshop zum Thema „Der perfekte Kompost“ für 1700 Euro – an wen richtet sich ein Angebot wie dieses? Annett, die Ich-Erzählerin von Kristine Bilkaus neuem Roman „Halbinsel“, gehört nicht zu denen, die schon ein Lastenrad für den Ausdruck eines von den realen Sorgen und Nöten der Menschen abgehobenen Bio-Lifestyles halten. Ganz im Gegenteil. Aber dass in der grüngewaschenen Idylle dieses Waldhotels etwas nicht stimmt, entgeht ihr schon deshalb nicht, weil an dieser Stelle ihre Tochter Linn kurz zuvor eine Ohnmacht erlitten hat. Nicht wegen der hohen Preise, aber doch wegen des nachhaltigen Zynismus, mit dem hier das Feld eines guten Umweltgewissens bewirtschaftet wird.

In einer Reihe von Romanen hat die Hamburger Autorin Kristine Bilkau ihren Sinn für die Bedrohungen und Widersprüche geschliffen, die hinter aufgeräumten Fassaden rumoren. Abstiegsängste, Gespenster neobiedermeierlicher Lebenslügen oder wie jetzt einfach nur die Panik, die Tochter könnte stolpern und stürzen und man müsste sie auffangen. Seit sie Mutter wurde, ist Annett immer wieder von ihr heimgesucht worden. Und nun das. Neben dem Realismus, in dem Bilkau Ereignisse und Befindlichkeiten einer verunsicherten Mittelschicht aufzeichnet, läuft stets eine symbolische Spur mit. Linns Zusammenbruch während eines Vortrags zum Schutz der Wälder in besagtem Hotel schleudert sie zugleich aus der beruflichen Laufbahn einer Umweltmanagerin heraus, in der sie manches zum Besseren verändern wollte.

Gefährliche Strömungen, apokalyptische Bilder

Nun ist sie wieder zurück in dem Haus am Wattenmeer, in dem sie aufgewachsen ist, ohne Vater, der eines Tages vom Joggen nicht mehr wiederkam. Unter Entbehrungen hat Annett sie großgezogen, ihr ein Studium ermöglicht. Das Vakuum, das Linns Erwachsenwerden im Leben der Mutter hinterlassen hat, könnte nun wenigstens vorübergehend wieder gefüllt werden. Schön eigentlich. Aber so vorübergehend scheint der Aufenthalt der in eine Lebenskrise gestürzten Tochter zu Annetts wachsender Beunruhigung nicht zu werden. In der Schilderung der aufziehenden Ambivalenzempfindungen zwischen Mutter und Tochter liegt die Stärke dieses Romans.

An den Küsten steigt die Flut, schon als Elfjährige hat Linn Überflutungskarten gezeichnet. Beim Stöbern in alten Erinnerungsstücken der Mutter stößt sie auf alte Magazine, in denen in apokalyptischen Bildern ausgemalt wird, was der Welt in fünfzig Jahren droht: brennende Wälder, flüchtende Tiere, in Flutwellen verschwindende Häuser. Die Watt-Landschaft mit ihren gefährlichen Strömungen, Warften und Halligen, dem Kommen und Gehen des Wassers, ihren Mythen und Traumata bildet den Hintergrund. In früheren Jahrhunderten soll hier eine Stadt versunken sein, deren Überreste, Ziegelsteine, Knochen, immer wieder angeschwemmt werden, so wie in Annetts seelischem Untergrund der unverarbeitete frühe Verlust ihres Mannes weitertreibt. Bei einer Wattwanderung kommt es zu „Schimmelreiter“-haften Szenen mit einem durchgegangenen Pferd.

Solange alles in der Schwebe von Andeutungen bleibt, übt der Roman einen unwiderstehlichen Sog. Doch Kristine Bilkau will mehr. Statt nur zu beschreiben und auf die vielfältigen Nuancen des Ungewissen zu vertrauen, die ihr zu Gebot stehen, drängt es sie zur Vereindeutigung. Die verdeckte Symbolik wird zum Spruchband, noch jeder durch den Schlick krabbelnde Krebs, der seinen Panzer verloren hat, zum Bedeutungsträger: „Sie müssen ihn loswerden und warten, bis ein neuer wächst – und so lange sind sie butterweiches Freiwild. Was für ein riskantes Dasein.“ Das passt natürlich exakt auf die Situation Linns.

Wie eine Führerin durchs Watt geleitet die Ich-Erzählerin durch den Roman, bisweilen sekundiert von Einwürfen ihres toten Mannes im inneren Zwiegespräch. Und so bekommt auch das Scheitern ihrer Tochter einen Sinn untergeschoben, als dürfte es nicht für sich alleine stehen. Die subtile psychologische Kasuistik von Mutterliebe, Verzicht, Erwartung und Enttäuschung verflüchtigt sich in einem belletristischen Impulsreferat über die Augenwischereien von Greenwashing und einem scheinheiligen Emissionshandel, der die Zukunft der Letzten Generation verschachert. Es ist das, was Linn vor ihrer nervösen Ohnmacht dem Auditorium in jenem Hotel an den Kopf werfen wollte.

Verloren in der Vergangenheit die eine, ohne Zukunft die andere. Die Zeit, bis ihr ein neuer Panzer gewachsen ist, überbrückt Linn als Verkäuferin in der örtlichen Bäckerei. Zum Befremden ihrer Mutter, die ihrerseits eigene Wege in der sich anbahnenden zarten Beziehung zu einem um vieles jüngeren neuen Nachbarn eingeht. So nehmen die Dinge ihren Lauf. Und nachdem die ein oder andere Problemkonstellation in einer großen Aussprache zwischen Mutter und Tochter benannt wurde, hat man das Gefühl, ein hochaktuelles Buch mit vielen klugen Ratschlägen für das Zusammenleben in einer unsicheren Welt vor sich zu haben.

Doch irgendwo im Watt ist ein sehr vielversprechender Roman ins Straucheln geraten. Am Ende bleibt eine versöhnliche Aussicht, etwas, dem die Autorin in ihren starken Momenten eigentlich zu misstrauen gelehrt hat. Die Jury des Leipziger Buchpreises hat das nicht irritiert.

Kristine Bilkau: Halbinsel. Roman. Luchterhand. 224 Seiten, 24 Euro.

Info

AutorinKristine Bilkau, 1974 geboren, zählt zu den wichtigen Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur. Sie studierte Geschichte und Amerikanistik in Hamburg und New Orleans. Sie lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

WerkBereits ihr Romandebüt „Die Glücklichen“ wurde mit dem Franz-Tumler-Preis, dem Klaus-Michael-Kühne-Preis und dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Mit „Nebenan“ stand sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Ihr neuer Roman „Halbinsel“ wurde für den Preis der Leipziger Buchmesse 2025 nominiert.

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Erstellt:
17. März 2025, 12:02 Uhr
Aktualisiert:
27. März 2025, 18:27 Uhr

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