Freie Szene in Stuttgart
Neue Bühnen im Kaufhaus und Kammertheater
Die freie Tanz- und Theaterszene gastiert in der ehemaligen Kaufhof-Filiale, das Solo-Tanz-Theater-Festival im Kammertheater: Das vergangene Wochenende machte Kultur-Träume wahr.
Von Andrea Kachelrieß
So gut durchmischt wie an diesem Wochenende sind die Kulturszenen selten. Im Kammertheater, einer Spielstätte der Staatstheater, war das Solo-Tanz-Theater-Festival zu Gast, die Kaufhof-Filiale in der Eberhardstraße machte die freie Tanz- und Theaterszene (FTTS) zur Kulturbühne, und im Produktionszentrum für Tanz und Performance (PZ) probten ehemalige Mitglieder des Stuttgarter Balletts.
Verkehrte Welt? „Es fühlt sich an wie in einem Traum“, sagte Dagmar Mikasch-Köthner, als sie im Kammertheater das Publikum zur Preisträger-Gala des Solo-Tanz-Theater-Festivals begrüßte. Normalerweise tut das die Leiterin der Volkshochschule als Gastgeberin im Treffpunkt Rotebühlplatz. Nun kam die Gala auf Einladung des Stuttgarter Balletts an zwei Abenden groß heraus und sorgte so auch für mehr Sichtbarkeit des dazugehörigen Festivals, das im März zum 29. Mal stattfinden wird.
Premiere beim Tübinger Gitarren-Festival
Einen Traum hatte auch Alessandro Giaquinto vor Augen, als er „Solare“ erdachte. Letzte Saison war der Italiener noch Tänzer des Stuttgarter Balletts, nun will er sich als neues PZ-Mitglied in der freien Szene behaupten. Die Bedingungen dort sind rauer. Verständlich, dass sich Giaquinto in seiner ersten freien Produktion mit zwei weiteren Tänzern in die sonnigen Sommer seiner Kindheit wegträumt. Der Premiere von „Solare“ beim Tübinger Gitarren-Festival wünscht man auf alle Fälle mehr Publikum, als die beiden Proben im PZ anlockten.
Wie in einem Traum fühlten sich sicherlich auch die Akteure der FTTS. Zum ersten Mal durften sie an diesem Wochenende die ehemalige Kaufhof-Filiale testen, die nach der Übernahme durch die Stadt als Ort im Gespräch ist, an dem sich der Wunsch nach einer eigenen Bühne endlich realisieren könnte. Noch hängt alles von der Machbarkeitsstudie ab, die derzeit prüft, ob der Zustand des Gebäudes und eine kulturelle Nutzung überhaupt zusammenpassen.
Bis dahin ist träumen erlaubt. „Kulturkaufrausch!“ heißt das Format, das vor leeren Regalen Shoppingnostalgie weckt und zugleich an einzelnen Stationen für die kommenden Veranstaltungen der FTTS-Akteure wirbt. Die Performer vom O-Team gastieren zwar gerade beim Kampala International Theatre Festival in Uganda. Aber sie ließen es sich nicht nehmen, im Kaufhof mit drei Feldbetten, einem Ständer mit Nachthemden und einem Video auf die nächsten Aufführungen ihres „Nachtstücks“ aufmerksam zu machen.
Eine Stunde dauert der „Kulturkaufrausch“
Elf Stunden dauert normalerweise die O-Team-Performance, die den Ort zwischen Traum und Wirklichkeit bespielt. Sehr viel weniger Zeit hat das „Kulturkaufrausch“-Publikum, um sich im FTTS-Angebot zu orientieren. Schon nach einer Stunde geht der Gong, dann ist der Rundgang beendet, weil die nächsten Gäste warten. „Wo früher Unterwäsche verkauft wurde, verkaufen wir heute Kultur“, begrüßt FTTS-Geschäftsführer Thomas Guggi alle Neugierigen, die an drei Abenden einen möglichst umfassenden Einblick in die Vielfalt der freien Szene erhalten sollen.
Mit dabei ist etwa der Spoken-Arts-Poet Bobby Sayyar, der mit seiner Botschaft von Liebe die Tristesse der leergeräumten Kaufhaus-Etage wegrappt. Auf Humor setzen dagegen Tyler Cunningham & Emilia Dorr, die in ihrer Performance „Hands up“ eine Kollegin im Elefantenkostüm „Schwanensee“ tanzen lassen, während das Amt für Körper & Schall mit finsteren Punkriffs alle „Kulturkaufrausch“-Träumer zurück auf den Boden der Tatsachen holt.
Kultur statt Unterwäsche
Auf diesem tanzen auch die sechs Besten des Solo-Tanz-Theater-Festivals im Kammertheater. Bei aller Unterschiedlichkeit ihrer stilistischen Mittel lastet auf den Soli der jungen Tanzschaffenden immer auch ein Erschrecken über den Zustand der Welt. So fasst sich der Italiener Davide Benigni im Fluss von sehr komplexen Bewegungen an den Hals, als ringe er nach Luft. Der Brasilianer Vitor Hamamoto, der locker tanzt, als bestehe er nur aus Muskeln, betritt die Bühne auf allen Vieren wie ein geknechtetes Tier. Die Koreanerin Subi Cho macht beeindruckend präzise den Druck sichtbar, der einem Menschen die Menschlichkeit raubt. Und die Kanadierin Emmy-Lynn MacKay-Ronacher will erst mit dem Kopf durch die Wand, um sich dann in einer starken Performance fast in Einzelteile zu zerlegen.
Gastspiel mit Happy End
Selbst bei leichteren Themen tanzt das Bewusstsein um Verletzlichkeit mit: Sofia Scarpellini faltet ihren Körper wie Origami-Figuren und löst diese in immer neue Aggregatzustände von Tanz auf, während Gianni Notarnicola seinen humorvollen Blick auf Gendercodes dramatisch enden lässt. Das Gastspiel des Solo-Tanz-Theater-Festivals im Kammertheater hat dennoch ein Happy End. „Nicht zum letzten Mal“, betonte Ballettintendant Tamas Detrich, will er Gastgeber für die Preisträger-Gala sein. Ob dagegen die freie Szene ins Kaufhaus zurückkehren darf, bleibt erst mal noch Stoff für Träume.
Info
KaufhausAm 3., 4. und 5. Dezember wird die Kaufhof-Filiale in der Eberhardstraße erneut zur Kulturbühne. Dann bringt das Theaterkollektiv Lokstoff dort die dystopische Atmosphäre von Kafkas „Verwandlung“ und den ausgehöhlten Kosmos des Konsums zusammen. „Vorher/nachher“ heißt die Parabel auf die Verwandlung der Welt.
TermineDas O-Team spielt seine elfstündige Performance „Nachtstück“ das nächste Mal am 10./11. und am 17./18. Januar im Projektraum des Kunstvereins Wagenhalle; es stehen jeweils 22 Feldbetten zur Verfügung. Die Performance „Hands up“ von Tyler Cunningham und Emilia Dorr ist am 30. November in der Rampe zu erleben.