Orgelmusik und Elektrosounds verschmelzen

Der Musiker und Komponist Sebastian Bartmann spielt in Backnang in der Christkönigskirche ein Ausnahmekonzert.

Sebastian Bartmann spürt der Ursprünglichkeit von Musik nach. Foto: A. Becher

© Alexander Becher

Sebastian Bartmann spürt der Ursprünglichkeit von Musik nach. Foto: A. Becher

Von Gabriella Lambrecht

Backnang. Wenn Sebastian Bartmann – national und international ausgezeichneter Ausnahmemusiker und Komponist – ein 400 Jahre altes Musikstück an der Orgel spielt, ist eines sicher: Man muss es fühlen – das Schöne wie das kaum erträglich Mitreißende, dass Emotion und Musik untrennbar verwoben sind, man sich ihr nicht entziehen kann und ob man will oder nicht: fühlen muss. Dies bewies Bartmann während seines Orgelkonzerts „Organtronic“ am Sonntag in der Christkönigskirche in Backnang.

„Organtronic“ – ein Wortspiel, das offensichtliche Gegensätze miteinander verbindet: die klassische Kirchenorgel und Elektromusik, seit den 1970ern mit dem Synthesizer erzeugt, wie man es etwa von „Kraftwerk“ kennt und wie es heute in vielen Klubs nächtelang gespielt wird. Zwei Musikelemente, die gegensätzlich scheinen, aber doch zueinander gehören, wie Sebastian Bartmann vor dem Konzert bereits erläutert: „Die Orgel ist im Prinzip der erste Synthesizer, den es in der Musikgeschichte gab.“ Ziel sei es, eine „Verschmelzung zwischen den Klangextremen“ zu erreichen, „sodass man nicht mehr hören kann, ob das jetzt ein akustischer oder ein elektrischer Klang ist“, während er spiele. Doch warum tut Bartmann dies, was fasziniert ihn so sehr daran?

Bartmann ist in seinen Kompositionen, dem Erleben und Ausdrücken von Musik vor allem auf der Suche nach einer „Ursprünglichkeit von Musik, ihren Wurzeln“, die emotional bewegt. Dabei geht es ihm nicht zwingend um „Schönheit“, schon gar nicht in klassischem, kantianisch-ästhetischem Sinne. Wo andere unüberbrückbare Spannungen und Gegensätze sehen, sieht Bartmann das Potenzial von Musik, die Möglichkeit, Gefühle in Menschen universal zu wecken. Mit diesen Dualismen und Spannungen spielte Bartmann auch vergangenen Sonntag in Backnang. Im Fokus stand ein 400 Jahre altes Musikstück: Girolamo Frescobaldis „Toccata terza“ (1635), das er klassisch in den ersten und letzten vier Minuten des Konzerts an der Orgel interpretierte. Nach dem Auftakt nahm Bartmann die Zuhörer mit auf eine „Klangreise“, wie er es nennt, „hin zum Ursprung der Musik, in ihrer Schlichtheit“: Gefühlt über Minuten hält also im Anschluss an die Toccata Bartmann einen Ton, der etwa mit dem Ausklingen eines Tons auf dem Gitarrenverstärker zu beschreiben ist, und kombiniert auf diesem immer wieder Elemente, Kadenzen der Toccata neu mit Elektrosounds. Er erzeugt Töne, die wie unheimliches Donnergrollen das Kirchenschiff erfüllen und in krassem Kontrast zum Raum stehen. Mit der Zeit vermögen Bartmanns Klänge die Stimmung im Kirchenschiff jedoch zu vereinnahmen, das kühl-bläulich angestrahlte Kruzifix, die donnernden Klänge, hohe kurze Töne, die innerhalb einer Stunde so viel Spannung erzeugen und sich dann auf dem Höhepunkt entladen, zum Schluss wieder ein langer, leiser hoher Ton und der leise, aber deutliche Rhythmus eines Herzschlags – der ursprünglichste Rhythmus der Musik.

Wie aber über Musik schreiben, die eigentlich unbeschreiblich ist? In der am Ende kaum etwas bleibt als das Gefühl, die Gänsehaut, gerade etwas erlebt zu haben, das mit Worten kaum zu fassen ist, aber so mitreißend und ursprünglich, dass es ohne Worte verstanden werden kann? Wenn Sebastian Bartmann von einer „Offenbarung“ spricht, „welche Schlichtheit und zugleich Tiefe in jeder Musik liegt“, dann lässt sich mit Sicherheit sagen, dass er auch genau dies mit seiner Musik zum Ausdruck bringt.

Demnächst wird seine von ihm komponierte Neufassung einer Bach-Suite vom SWR-Symphonieorchester in der Liederhalle uraufgeführt. Auch hier wiederum: vermeintliche Gegensätze, die womöglich Spannungen erzeugen und dann ineinander aufgehen, sich auflösen – wie ein roter Faden in Bartmanns Werk.

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Erstellt:
9. November 2021, 16:00 Uhr

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