Neue CD-Aufnahmen mit dem SWR Vokalensemble

Schrille Nacht, heilige Nacht

Ahnungen von Transzendenz: Yuval Weinberg hat mit dem SWR Vokalensemble Chorwerke von Stefano Gervasoni und Alfred Schnittke aufgenommen. Das künstlerische Niveau ist fantastisch.

Stratosphärische Höhen: SWR Vokalensemble mit seinem Dirigenten Yuval Weinberg (vorne).

© SWR/Lena Semmelroggen

Stratosphärische Höhen: SWR Vokalensemble mit seinem Dirigenten Yuval Weinberg (vorne).

Von Martin Mezger

Der Komponist Stefano Gervasoni hat 2020 ein Chorstück über die Dunkelheit komponiert. Aber er ist kein Novalis, singt keine Hymnen an die Nacht, hegt keine Sympathie für sein Sujet. Ihn interessiert der Umschlag vom Nichts ins Ganz Andere. Denn wenn die letzte Kerze erlischt und mit diesem Symbol auch die Hoffnung, ist der Kipppunkt erreicht. Dann fühlt man den Sog der finstersten Passage: des Todes. Seine absolute Gewissheit ist der Übergang in absolute Ungewissheit.

Wie alle Übergänge hat auch dieser seine Riten. Der tiefsinnigste zelebriert die totale Verfinsterung als Tod Gottes. Das Erlöschen der letzten Kerze nach dem Kreuztod gibt dieser alten Karwochenliturgie den Namen: Tenebrae. Dunkelheit. Zappenduster, aus und vorbei. Und doch transformativ im Vorschein der Auferstehung, expressiv im Leiden. Das schreit nach Musik, und eine reiche Tradition von Palestrina bis Couperin, von Gesualdo bis Zelenka hat sie gemacht.

An sie knüpfen Gervasonis „De tinieblas“ und die Textgrundlage an, die „Tres lecciones de tinieblas“ („Drei Lesungen von der Dunkelheit“) des spanischen Dichters José Ángel Valente. Ihr Titel verweist auf die liturgischen Lesungen der Klagelieder des Jeremia. Valentes hermetische Verse formulieren jedoch ein eigenes Tenebrae-Mysterium: sinnlich und sinndunkel zugleich, Sprachbilder eines naturhaft-organischen Werdens und Vergehens zwischen Lichtenergie und höhlenhafter Leere. Das ist – zumal in Erwartung politischer und ökologischer Katastrophen – deutungsoffen für säkulare Karfreitagsgefühle und treibt zugleich jene Paradoxie auf die Spitze, wo Unsinnliches dann gesteigerte Sinnlichkeit provoziert: Finsternis, die blendet; Stille, die brüllt; Leere, in der Grelles gellt. Gervasonis Musik für Chor und Elektronik überträgt das in eine raumzeitliche Entgrenzung des Hörens.

Den Atemgeräuschen zu Beginn überlagert sich beinahe gewaltsam ein psalmodierender Tenoreinsatz. Dressur bändigt das Kreatürliche, in Melismen und Vibrati kehrt es wieder, verflüssigt den starren Ton zum Ausdruck. Was hier als Spannung ausgetragen wird, heben die Echos der Elektronik aus den linearen Zeitfugen. Die elektronische Wiederkehr vergangener Klangpassagen blendet Erinnerung und Gegenwart ineinander, während die Elektronik andererseits den Live-Chorklang utopisch überhöht.

In der Ersteinspielung mit Yuval Weinberg und dem SWR Vokalensemble drehen die Spezialisten des Pariser IRCAM an den Reglern, während der Spitzenchor und sein Dirigent stratosphärische Klangkonstellationen erleuchten: mit unglaublicher Schönheit, aber auch mit gleißender Schärfe, wo diese gefordert ist. Schrille Nacht, heilige Nacht begegnet einer Steigerungsdramaturgie, die von Mikrokanonik und Repetitionsmustern zu Höhepunkten und in veränderte klangliche Aggregatszustände vorangetrieben wird – ganz gemäß der Transformationslogik des Stücks. Polyfonie geht über in kollektive Chorblöcke, dramatisch konfrontiert mit individuellen Ein- und Ausrufen. Und wie Erscheinungen schimmern für Momente die Kontemplationstöne ferner Renaissancemusik auf, von denen „De tinieblas“ ausging. Das Ganze: ein ekstatischer, bisweilen schwindelerregenden Höhenflug durch eine Klangkuppel, in deren Zenit der Heilige Geist schwebt – wenn so verdammt gut gesungen wird wie hier.

Schwingen im Ewigkeitspuls

Dieselbe präzise Klarheit von Ton und Intonation lassen Weinberg und das Vokalensemble bei einem ganz anderen Traditionsbezug walten. Der russische Komponist Alfred Schnittke hat 1985 mit seinem Konzert für Chor das Geistliche Chorkonzert des 18. Jahrhunderts aufgegriffen, mit dem russische Komponisten eine Synthese von orthodoxem Gesang und westlichem Stil anstrebten. Zwei wunderbar gesungene Beispiele von Bortniansky und Vedel sind in der Schnittke-Aufnahme enthalten. Sein 40-minütiges Chorkonzert lebt von der subtilen, aber sinnfälligen harmonischen Beleuchtung eines archaisierenden Tonsatzes. Mit welcher Feinheit Weinberg die glasfensterhaften Farben timbrieren, mit welcher Elastizität das Ensemble den Ewigkeitspuls dieser Musik schwingen lässt, ist von stiller Faszination: eine Ahnung von Transzendenz.

Stefano Gervasoni: De tienieblas. SWR Vokalensemble, IRCAM, Yuval Weinberg. Kairos 0022043KAI (Vertrieb: Kairos)

Alfred Schnittke: Konzert für Chor. Artemy Vedel: Geistliches Konzert Nr. 21. Dmitry Bortniansky: Geistliches Konzert Nr. 32 „Herr, lass mich mein Ziel erkennen“. SWR Vokalensemble, Yuval Weinberg. SWR Music 19150CD (Vertrieb: Naxos).

Die Aufnahmen

GervasoniStefano Gervasoni: De tinieblas. SWR Vokalensemble, IRCAM, Yuval Weinberg. Kairos 0022043KAI (Vertrieb: Note 1 Musikvertrieb).

SchnittkeAlfred Schnittke: Konzert für Chor. Artemy Vedel: Geistliches Konzert Nr. 21 „An den Strömen von Babel saßen wir und weinten“. Dmitry Bortniansky: Geistliches Konzert Nr. 32 „Herr, lass mich mein Ziel erkennen“. SWR Vokalensemble, Yuval Weinberg. SWR music SWR19150CD (Vertrieb: Naxos).

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Erstellt:
9. April 2025, 15:20 Uhr
Aktualisiert:
9. April 2025, 18:33 Uhr

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