Premiere beim Stuttgarter Ballett
Tosender Applaus und einzelne Buhrufe bei Neumeiers Ballett „Anna Karenina“
Der Choreografie-Altmeister John Neumeier bringt „Anna Karenina“ als Sittenbild-Collage nach Stuttgart. Im Opernhaus mischen sich in den tosenden Schlussapplaus auch vereinzelte Buhrufe.

© SB/Roman Novitzky/y
Miriam Kacerova als Anna Karenina, David Moore als Alexej Karenin
Von Julia Lutzeyer
Weltliteratur von mehr als 1000 Seiten in Tanz zu verwandeln ist ein schwieriges Unterfangen, zumal bei einer Handlung, die gleich drei Familien in den Blick nimmt und bezugsreich miteinander verflicht. Gleichwohl haben sich schon viele Choreografen an Leo Tolstois Mammutwerk „Anna Karenina“ gewagt, darunter André Prokovsky (1979) und Boris Eifman (2005) sowie Alexei Ratmanski, der für seine 2004 für das Königlich Dänische Ballett entstandene Version mit dem Prix Benois de la Dance geehrt wurde.
2014 schuf der von Stuttgart in die Schweiz gewechselte Christian Spuck „Anna Karenina“ für das Ballett Zürich. Wie alle Vorläufer stellte er Anna in ihrem Ehekorsett und deren Ausbruch daraus ins Zentrum des Geschehens. Unvergessen auch: Sidi Larbi Cherkaouis Beitrag zur durchchoreografierten Verfilmung mit Keira Knightley in der Titelrolle (Regie: Joe Wright).
Sittenbild der Gegenwart
In diesen Reigen fügt sich John Neumeiers Interpretation von Tolstois großem Gesellschaftsroman ein. 2017 für Hamburg geschaffen und nun mit dem Stuttgarter Ballett einstudiert, nimmt seine „Anna Karenina“ eine Sonderrolle ein. Denn ganz wie Tolstoi in seinem Roman befasst sich Neumeier nicht nur mit Annas Ehebruch und den Folgen. Vielmehr collagiert er 24 sich überlappende Szenen zu einem in die Gegenwart verlegten Sittenbild und stellt dabei drei Paare mit unterschiedlichen Lebenskonzepten vor.
Für den mittlerweile 86-jährigen John Neumeier, Spross der Cranko-Ära und mit den narrativen Meisterwerken „Kameliendame“ und „Endstation Sehnsucht“ im Stuttgarter Repertoire fest verankert, gab es bei der „Anna Karenina“-Premiere am Freitag stehende Ovationen. Vor dessen Erscheinen auf der Bühne hatten sich im tosenden Schlussapplaus jedoch vereinzelt Buhrufe vernehmen lassen. Und die dürften nicht den hervorragenden Tänzerinnen und Protagonisten gegolten haben. Allen voran der aus der Babypause zurückgekehrten Miriam Kacerova: Als nach Liebe, Lust und Lebenssinn dürstende Titelfigur gab sie alles.
Auch das von Mikhail Agrest dirigierte Staatsorchester brillierte und wechselte mit satt-samtigen Klangfarben nahtlos zwischen Tschaikowsky und Schnittke. Missmut mögen eher die überladenen Tableaus mit ihrer Vielzahl an schwer bestimmbaren Figuren in wechselnden Kostümen erzeugt haben (Ausstattung weitgehend Neumeier). In dieser Überfülle konnte der Tanz seine erzählerische Kraft schwerlich entfalten. Viel zu oft blieb es bei theatralischen Gesten und illustrativen Gruppenszenen, ob Sensen schwingende Landarbeiter oder trainierende Sportler.
Nun aber auf Anfang: Das Publikum lernt die Familie Karenin bei einer politischen Kundgebung kennen, vereint fürs mediale Blitzlichtgewitter. Der wandlungsfähige David Moore verkörpert Karenin als Politiker unter Hochdruck. Messerscharfe Armgesten, rechtwinklig die Sprünge, schnell getaktet die Fotoposen: Außenwirkung ist alles. Ein armer reicher Tropf zum Fürchten, wozu auch die mafiös anmutenden Leibwächter beitragen. Kaum ist der Platz am Rednerpult frei, ahmt Sohn Serjoscha (frisch und frei: Mitchell Millhollin) das väterliche Machogehabe nach. Als charismatische Frau muss sich Anna nicht in solche Attitüden zwängen. Sie beantwortet das öffentliche Interesse spielerisch. In einer Zwangsjacke steckt sie trotzdem.
Ein Seitensprung – mit allen Konsequenzen
Dieses Bild drängt sich später in der Liebesszene mit dem Grafen Wronski auf, den Martí Paixà vital und etwas zu sympathisch darstellt. Beide Körper an die Wand gepresst, spielt sich der Pas de deux in der Fläche ab. Arme und Beine bilden geometrische Muster. Freie Liebe sähe anders aus. Erst als Wronski von Anna ablässt, entsteht Raum für mehr. Indem sich Anna in der Tür umdreht und zielgerichtet auf den Begehrten zugeht, stellt Neumeier klar, dass sie diejenige ist, die den entscheidenden Schritt macht. Mit allen Konsequenzen!
Seitensprünge gibt es nicht nur bei den Karenins. In der Ehe von Annas Bruder Stiwa (Clemens Fröhlich) und Dolly ist es der Mann, der seine Lust auf andere auslebt. Doch anders als Anna wird er gesellschaftlich nicht geächtet. Nur Dolly ist es leid. Als könnte man sich die männliche Selbstbestimmung mit einer Schiebermütze auf den Kopf setzen, will sie fort und kommt doch kaum vom Fleck.
Ihren inneren Zwiespalt macht Mackenzie Brown in einem berührenden Solo sichtbar. Hier sind es vor allem die Blicke zwischen Dolly und ihren Kindern, die den Raum durchmessen und viel mehr ausdrücken als Worte. Seltsam, dass in einem Ballett vor allem solche stillen, bewegungsarmen Momente unter die Haut gehen.
Jason Reilly als das schlechte Gewissen
So eine Szene gibt es auch bei Kitty und Lewin, dem dritten Paar. Zunächst hat Kitty an dem Burschen, der das Landleben feiert, kein Interesse. Das aufgeweckte Ding zieht es zu Wronski hin. Und anders als bei Tolstoi steckt jener Kitty, von der hochtalentierten Gruppentänzerin Yana Peneva getanzt, einen Ring an den Finger. Der gilt jedoch nicht viel. An Wronskis Liebesverrat droht Kitty irr zu werden. Doch Lewin (berührend: Matteo Miccini) hilft ihr aus dem Seelentief. Er sieht sie, schreckt vor der sich Schüttelnden nicht zurück, bis ihre Krämpfe weichen und eine sanfte Annäherung möglich wird.
John Neumeier zeigt die Entwicklung seiner Figuren schlaglichtartig. Beim nächsten Auftritt können sie schon in einer anderen Verfassung sein. Zunehmend sind Träume und Gedanken die Auslöser für solche Wandlungen. Nicht immer sind sie sichtbar. Wohl aber Muschik, ein Gleisarbeiter, der anfangs vom Bühnenhimmel fällt.
Als Wiedergänger spukt dieser Todesbote durch das Stück. In Gestalt von Jason Reilly schiebt er sich bäuchlings zwischen das Paar, ringt mit beiden. Neumeier begreift diese Figur als quälendes Gewissen, das letztlich übermächtig wird. Anna wählt den Suizid.
Anna Karenina: Vorstellungen am 20., 26., 27. März, 2. bis 4. sowie 10., 15. und 17. Mai. Nur noch Restkarten verfügbar.