Stuttgarter Philharmoniker begeistern im Backnanger Bürgerhaus

Der Auftritt der Stuttgarter Philharmoniker am Samstag im Backnanger Bürgerhaus fordert die Hörgewohnheiten der Zuhörerinnen und Zuhörer heraus. Das Programm „Grenzüberschreitungen zwischen Wien und New York“ wird begleitet und dirigiert von Frank Dupree und HK Gruber.

Der Wiener Chansonnier HK Gruber (am Mikrofon) singt und rezitiert Kinderreime, begleitet vom Orchester. Foto: T. Sellmaier

© Tobias Sellmaier

Der Wiener Chansonnier HK Gruber (am Mikrofon) singt und rezitiert Kinderreime, begleitet vom Orchester. Foto: T. Sellmaier

Von Marina Heidrich

Backnang. Eigentlich kann es fast nicht besser kommen: Bereits die Einführung in das Programm „Grenzüberschreitungen zwischen Wien und New York“ am Samstag im Bürgerhaus ist ein kleiner Höhepunkt. Johannes Ellrott von der Stadt Backnang begrüßt das Publikum zu einer ungewöhnlichen musikalischen Reise, die immer auch ein Abenteuer bedeutet. „Abenteuer fordern, dass man sich darauf einlässt“, so der Kulturamtsleiter. Die Frage ist: Wie abenteuerlustig ist das Backnanger Publikum?

Die Stuttgarter Philharmoniker sind unbestritten herausragende, anerkannte und gern gehörte Gäste in Backnang. Doch dieser Abend fordert die Hörgewohnheiten besonders heraus. Albrecht Dürr, Dramaturg der Philharmoniker, begrüßt nicht nur den preisgekrönten Pianisten Frank Dupree, sondern auch den Komponisten, Dirigenten und Chansonnier HK Gruber, dessen eigenes Werk „Frankenstein!! Ein Pandämonium für Chansonnier und Orchester nach Kinderreimen von HC Artmann“ aufgeführt wird. Der Wiener erläutert sein Stück mit dermaßen viel Charme, Wortwitz und Gewandtheit, dass die Spannung steigt.

Auch der 30-jährige Frank Dupree, Pianist, Dirigent und Multitalent, gewinnt sofort die Sympathie des Publikums. Auf dem Programm steht als Erstes Johann Strauss (junior) musikalischer Scherz „Perpetuum mobile“, eine rasche Polka, die Frank Duprees Aussage „Es geht heute um Bewegung und Rhythmus“ bestens unterstreicht. Der junge Pianist steht auch beim folgenden „Frankenstein!!“ (ganz bewusst mit zwei Ausrufezeichen) am Dirigentenpult.

Gruber betritt die Bühne – und es beginnt eine wild-exotische Reise durch scheinbar nette, ins gruselig Absurde mutierte vertonte Kinderreime, die der 79-Jährige mit unglaublich präsenter, frischer Stimme singt. Nein – nicht nur singt, er rezitiert, knurrt, brüllt. Das Orchester bettet die Texte großartig ein, wobei der Mann an der Pauke wohl nicht oft dazu kommt, während eines Konzerts Papiertüten aufzupusten und rhythmisch zerplatzen zu lassen. Der letzte Ton erklingt, die Stuttgarter Philharmoniker verharren wie eingefrorene Statuen in ihrer Schlusspose – zwei Sekunden absolute Stille. Dann rast das Publikum und Bravorufe ertönen. Experiment geglückt!

Auch im zweiten Teil des Abends gibt es eine Überraschung. Dupree hat sich Verstärkung geholt. Mit Jakob Krupp am Kontrabass und Obi Jenne am Schlagzeug bildet Dupree ein Jazz-Trio, für das zunächst ein Teil des Orchesters von der Bühne geht. Die drei jungen Männer erscheinen im dunklen Anzug – und in weißen Sneakers, Gruber übernimmt den Taktstock. Dann erklingt „A Jazz Symphony“ von George Antheil, einem der umstrittensten und gleichzeitig revolutionärsten Klassik-Jazz-Crossover-Komponisten seiner Zeit. Frank Dupree zeigt hier, dass er sowohl Ausdruck als auch Technik und Gefühl absolut beherrscht.

George Gershwins „Concerto in F“ für Klavier und Orchester entstand 1925, ein Jahr nach seinem bekanntesten Werk „Rhapsody in Blue“. Klassik- und Jazzelemente bilden hier ein reizvolles, kontrastreiches und doch homogenes Musikerlebnis. Die kleine Sinfonie ist in die klassischen drei Sätze eingeteilt und beginnt mit Paukenschlägen. Wörtlich und im übertragenen Sinn. Die wieder kompletten Stuttgarter Philharmoniker und Duprees Jazz-Trio zeigen nicht nur eine technisch auf höchstem Niveau gelegene Verschmelzung – auch die sichtliche Spielfreude wirkt ansteckend. Die Musiker wippen mit, Köpfe bewegen sich im Rhythmus. Füße klopfen den Takt, egal, ob sie in Sneakers, schwarzen Lackschuhen oder High Heels stecken. Aber vor allem ist ein Lächeln auf den Gesichtern der Musiker zu sehen.

Diese Stimmung kommt auch beim Publikum an. Wer hat eigentlich festgelegt, dass man nach einem dermaßen gelungenen Satz noch nicht klatschen soll? Musik transportiert und überträgt nun mal im Idealfall Gefühle und Stimmungen. Die Zuhörer im Bürgerhaus können gar nicht anders und reagieren wie das Publikum der Mailänder Scala bei einer besonders gelungenen Premiere – es jubelt und feiert die Musiker einfach. Frank Dupree genießt es lachend, deutet aber mit einer Handbewegung an, dass es weitergeht. Der zweite Satz folgt, zum Niederknien schön, ergreifend und hoch emotional. Der treibende dritte Satz enthält alle Elemente, die man spontan mit Gershwins Musik verbindet, und ist sehr schnell. Duprees Finger fliegen über die Tastatur. Ein echtes Grande Finale.

Und natürlich gibt es stehende Ovationen, minutenlangen Applaus, Bravorufe, Trampeln – Begeisterung pur. Das Publikum hat sich definitiv auf dieses musikalische Abenteuer eingelassen und wurde mitgerissen. Die extravagante musikalische Melange hat funktioniert. Glaubt man HK Grubers Eingangsworten, so ist das nicht überraschend. „Einigermaßen intelligente Musik passt immer zusammen – egal, welches Genre“, verkündete der Wiener zuvor, mit einem spitzbübischen Lächeln.

Gruber singt mit dem Jazz-Trio noch zwei Zugaben von Kurt Weill: „Berlin im Licht“ und „Das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens“. Als allerletzte Zugabe gibt es bei einer groovenden Variation des Duke-Ellington-Klassikers „Caravan“ noch was fürs Auge. Obi Jenne liefert ein Drum-Solo, bei dem fast niemand still sitzen bleiben kann. Dann zeigt Dupree, dass er auch ein ausgezeichneter, passionierter Schlagzeuger ist und trommelt sich über die Außenseite seines Flügels in Richtung Jakob Krupps Kontrabass, schnappt sich Bongos und liefert am Bühnenrand sitzend eine temperamentvolle Show. Ein Abend voller raffinierter, ansteckender Grenzüberschreitungen, den eine Dame beim Verlassen des Saals strahlend kommentiert: „So was hätte ich gerne noch mal.“

Der zweite Satz folgt, zum Niederknien schön, ergreifend und hoch emotional.

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Erstellt:
14. Februar 2022, 06:00 Uhr

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