Architekturfotografie im Vitra Design Museum
Und das soll jetzt tolle Architektur sein, oder was?
Iwan Baan gilt als einer der bedeutendsten Architekturfotografen weltweit. Nun widmet das Vitra Design Museum in Weil am Rhein dem niederländischen Fotografen die erste umfassende Retrospektive. Und was für eine!
Von Tomo Pavlovic
Im Grunde sollten an besonders gelungene oder zumindest auffällige Bauwerke Warntafeln mit dem Hinweis angebracht werden: Achtung, Architektur kann süchtig machen! Eine intensive Beschäftigung mit guter Architektur kann mitunter zu rauschhafter Bewusstseinserweiterung führen, die leider sehr oft mit einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit einhergeht.
Der Baum als Störenfried
Einen erheblichen Einfluss auf dieses Suchtpotenzial hat die professionelle Architekturfotografie. Sie vermittelt in der Regel eine visuelle und sinnliche Erfahrung, die eine Verdeutlichung des alltäglichen Bewohnens und Benutzens des Gebäudes überschreitet.
Linien, Flächen, Spiegelungen: Neue Architektur erscheint nicht selten abstrakt, skulptural und aseptisch. Menschen, Tiere, ja selbst Büsche und Bäume wirken hier nur wie Störenfriede, oft fehlt die Natur auch ganz. Das Schöne und Erhabene, das sind gern mal Tempel der Askese. Atemberaubende Raumhüllen, bei deren Anblick der Architektursüchtige Chaos und Unordnung, all die Zumutungen unserer Welt für einen Augenblick verdrängt.
Iwan Baan allerdings gilt als einer der bedeutendsten Architekturfotografen der Welt, obwohl auf seinen Bildern der Mensch überaus präsent, mindestens ebenbürtig mit der spektakulären Architektur ist. In eindrücklichen Bildern dokumentiert der 48-Jährige das Wuchern globaler Megacities ebenso wie traditionelle oder informelle Bauten und die Werke bekannter zeitgenössischer Architektinnen und Architekten und Planungsstudios, darunter Rem Koolhaas, Herzog & de Meuron, Tadao Ando, Kazuyo Sejima, Zaha Hadid Architects oder Tatiana Bilbao. Noch bis zum März 2024 widmet das Vitra Design Museum dem niederländischen Fotografen die erste umfassende Retrospektive.
Strenge und Ironie
„Ich versuche immer die ungeplanten Dinge miteinzubeziehen“, sagt er in einem kurzen Videoporträt, das am Ende der Schau auf die Besucher wartet. Wie das funktioniert, demonstriert er an einer Auftragsarbeit in Paris. Der Tokioter Architekt Sou Fujimoto hat ein Lernzentrum für die Eliteschule École polytechnique entworfen und umgesetzt, für dessen effektvolle Visualisierung er Iwan Baan engagiert hat.
Baan wartet dann nicht nur auf das richtige Tageslicht, bis er den gleißend hellen Bau – eine eckige Welle – in Szene setzt. Vielmehr konzentriert sich der Fotograf auf seine Eingebung und den Zufall. Schließlich sind es zwei vermeintliche Fremdkörper, die das Bild zu einem echten Baan machen: ein zufällig vorbeifahrender Radler sowie ein signalroter Kleinwagen, die gemeinsam mit den zwei Mülltonnen vor dem Gebäude einen ironischen Kommentar zu der spektakulären und strengen Architektur liefern. Eine dieser typischen Momentaufnahmen von Iwan Baan.
Die großartige Ausstellung zeigt Beispiele aus allen Bereichen von Iwan Baans Schaffen seit der Jahrtausendwende, darunter auch Filmmaterial und wenig bis gar nicht bekannte oder veröffentlichte Bilder traditioneller Bauten, Wohnhäuser und Siedlungen, vom chinesischen Runddorf bis zur äthiopischen Felsenkirche, von im Eigenbau entstandenen Etagenhäusern in Kairo bis hin zum Torre David in Caracas.
Dort, mitten in der Hauptstadt Venezuelas, lebten mehr als 1000 Menschen illegal in einem Hochhaus, das nie fertig gebaut wurde. Auf den zahlreichen Etagen der Bauruine, einem furchteinflößenden Betonskelett, haben die Menschen selbst gemauert und Wände eingezogen, sich eingerichtet.
Iwan Baans intime, aber nie entwürdigende Einblicke zeigen, dass Architektur schon immer auch den Zweck hatte, sich vor dem bedrohlichen Außen zu schützen. Architektur, die nur für sich steht, interessiert ihn weniger. Das Wohnhaus ist der Inbegriff von Schutz und Geborgenheit, egal ob in einer dicht besiedelten nigerianischen Wasserstadt oder in den ausufernden Reihenhaussiedlungen einer texanischen Ölmetropole.
Fotografische Erzählung
Iwan Baan, der Fotografie studiert hat, nicht Architektur, lotet in seinen besten Arbeiten die psychologischen Dimensionen unserer Behausungen, Siedlungen und Städte aus. „Wichtig ist das Erzählen“, sagt Iwan Baan. „Und das ist sehr intuitiv und fließend. Mir geht es weniger um zeitlose Bilder großer Architektur als um den spezifischen Zeitpunkt, um den Ort und die Menschen dort – all die unvorhergesehenen, unplanbaren Momente an und um einen Ort, wie die Menschen dort leben und welche Geschichten dadurch erzählt werden.“
Dass der fotografische Erzähler Iwan Baan neben seiner Neugierde auf Menschen in ihrer oft seltsamen, ja bizarren Architektur auch mit einem wunderbaren Humor gesegnet ist, macht die Ausstellung im Vitra Design Museum umso sehenswerter.
Info
AusstellungIwan Baan. Momente der Architektur im Vitra Design Museum in Weil am Rhein, noch bis zum 3. März 2024. Geöffnet täglich, 10 bis 18 Uhr, am 24. Dezember von 10 bis 14 Uhr. Mehr Infos unter www.design-museum.de