Urgewaltige, ungeschliffene Natur

Melanie Wiora zeigt in der Städtischen Kunstsammlung Murrhardt eine Auswahl ihrer fotografischen Arbeiten und ein Video. „Liquid Landscape“ ist eine Einladung, in das Prozesshafte, Unberechenbare und Dynamische der Landschaftsausschnitte einzutauchen und sie neu zu entdecken.

Melanie Wiora vor dem Bild Nummer 29 ihrer Serie „Natura“. Die Fotografien tragen bewusst keinen Titel, um mehr Wahrnehmungsspielraum zu eröffnen. Foto: J. Fiedler

© Jörg Fiedler

Melanie Wiora vor dem Bild Nummer 29 ihrer Serie „Natura“. Die Fotografien tragen bewusst keinen Titel, um mehr Wahrnehmungsspielraum zu eröffnen. Foto: J. Fiedler

Von Christine Schick

Murrhardt. Melanie Wiora steht vor einer der größten Fotografien der Sonderausstellung, dem Bild der Serie „Natura“ mit der Nummer 29. Die Blautöne verweisen auf das Element Wasser. Den verwobenen, ineinanderfließenden Strukturen wohnt etwas Kraftvolles und Dynamisches inne, gleichsam wirkt das Malerische und Offene des Ausschnitts wie eine meditative Einladung. Das ist durchaus im Sinne der Kölner Künstlerin. Die Fotografien, die sich im rechten Raum der Sonderausstellung „Liquid Landscape“ in der Städtischen Kunstsammlung Murrhardt befinden, sind 2010 in Island entstanden. Melanie Wiora traf dort auf Gebirgsströme, Geysire und Schlammvulkane. Diese urgewaltige Landschaft hat sie sehr fasziniert. Als Künstlerin galt es für sie allerdings auch, einen neuen Zugang insbesondere auch für die Betrachterin und den Betrachter zu finden.

„Ich wollte weg von irgendwelchen Postkartenmotiven, die einen das Gesehene einsortieren und schnell wieder vergessen lassen“, sagt sie. „Ich möchte hinter die Oberfläche jenseits der typischen Hochglanz- oder Fernsehperspektive schauen.“ Auf der Suche nach Gestaltungsmöglichkeiten, einen unvermittelten, neuen Blick auf die Natur zu schaffen, beginnt sie mit bestimmten Techniken zu arbeiten. Als wirkungsvoll erweist sich, keine Referenzpunkte zur Maßstabseinordnung zu bieten. Insofern finden sich auch keine Bäume, Gräser oder gar Menschen auf den Bildern. Hinzu kommen farbliche Verfremdung und eine bewusste Wahl des Ausschnitts. All das ist dazu da, eine reflexhafte Einordnung und ein schnelles Abhaken zu brechen. „Ich möchte das Publikum auch ein wenig fordern und zum Entdecken anregen.“

In den Fotografien sind die Uneindeutigkeiten kunstvoll inszeniert. In einem Bild schräg gegenüber bleibt völlig offen, ob es sich um ein Gebirge mit schneebedeckten Hängen oder um eine Wellenformation handelt. Für die 52-Jährige zielt dies letztlich auf das, was sie selbst in Bann zieht: die Prozesshaftigkeit und der ständige Wandel in der Natur, das Entstehen und Vergehen bis hin zu ihrer Unberechenbarkeit.

Gut nachvollziehbar, dass sie ihre Motive in Island sucht. Auch in den Vereinigten Staaten würde sie wohl fündig werden, aber auf dem Inselstaat ist sie nicht mit wilden (Groß-)Tieren konfrontiert und „es hat teils 20 Stunden Tageslicht.“ Die Bilder im zweiten, linken Raum der Sonderausstellung sind vom vergangenen Jahr, zwei Exemplare beeindrucken durch die Dreidimensionalität der Formen und Figuren. Die Porträts wirken wie ein mikroskopischer Blick auf meisterhafte, geheimnisvolle Wasserspiele. Da ist auch ihr Wunsch, das Große im Kleinen zu zeigen.

In ihren Videoarbeiten nutzt Melanie Wiora zusätzliche Möglichkeiten, um „das sichtbar zu machen, was man mit bloßem Auge gar nicht wahrnehmen kann“. Die Sequenz, unterlegt mit einer Tonmontage, steigt mitten in Gebirgswasserströme, -wirbel und -strudel ein. Die Aufnahmen einer Highspeedkamera (bis zu 1000 Bilder pro Sekunde) erlauben es mit der entsprechenden späteren Verlangsamung der Bilder, die kraftvolle Bewegung nachzuvollziehen. Auch der Ton ist bearbeitet, um „die Dramatik zu unterstreichen“.

Natur, Naturgewalt und das Ursprüngliche sind zentrale Themen der Künstlerin, „diese nicht kultivierten, teils unwirtlichen Landschaften, die nicht geschliffen, nicht nutzbar gemacht und dem Menschen nicht unterworfen sind“. Es ist ein Terrain, das angesichts des immer größer werdenden Verbrauchs und der Umweltzerstörung sozusagen immer kleiner und insofern auch besonders wertvoll wird. Dass letztlich auch der Konsum von Natur und Landschaft heute Teil der Umweltdiskussion ist, war zu Beginn ihrer Arbeitsserie „Natura“ noch nicht in dem Maße präsent wie dieser Tage. „Das hat sich für mich erst nach und nach entwickelt.“ Und auch wenn der Einfluss des Menschen sich gerade heute drastischer denn je darstellt und es um die Frage geht, lässt sich das Ruder noch herumreißen, sagt sie: „In letzter Konsequenz setzt die Natur die Rahmenbedingungen.“

Spannend an Melanie Wioras Arbeiten ist zudem, dass sie nicht nur die vielen Zwischentöne und die verschiedenen Aggregatzustände des Elements Wasser zu fassen versucht, sondern sich auch zwischen verschiedenen Kunstformen beziehungsweise Medien bewegt. Ursprünglich kommt sie aus der Malerei, hat an der Kunstakademie Karlsruhe studiert. „Meine Bilder wurden immer abstrakter“, erzählt sie, gleichzeitig beginnt sie schon damals mit der Fotografie zu experimentieren. Später schließt sie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe ein Studium der Medienkunst an. Es entwickelt sich das, was sie heute einen „malerischen Blick auf die Fotografie“ nennt. Kein reines Abbilden und Scharfstellen, aber auch keine von der Künstlerin völlig dominierte, konstruierte Darstellung, sondern eine Mischform, die den Motiven und Themen Raum lässt und sich gleichzeitig genau dieser bewusst ist. „Der Künstler ist immer Teil des Bildes“, sagt sie.

Vernissage am Sonntag

Vernissage Die Sonderausstellung „Liquid Landscape“ von Melanie Wiora wird am Sonntag, 10. April, um 11 Uhr im Heinrich-von-Zügel-Saal eröffnet. Es sprechen Bürgermeister Armin Mößner und Christian Gögger vom Esslinger Kunstverein. Die Ausstellung läuft bis zum 6. Juni und hat samstags, sonn- und feiertags von 13 bis 17 Uhr geöffnet. Der Eintritt kostet drei Euro, Führungen sind auf Anfrage unter Telefon 07192/213-222 möglich.

Werdegang und Schaffen Melanie Wiora ist in Waiblingen geboren, bei Schorndorf aufgewachsen und hat verwandtschaftliche Verbindungen in die Walterichstadt. Sie hat Malerei und Medienkunst in Karlsruhe studiert , über Stipendien unter anderem in England und den USA gearbeitet und lebt heute in Köln. Weitere Infos unter www.melaniewiora.de.

Gespräch mit der Künstlerin Melanie Wiora ist am Sonntag, 15. Mai, um 14 Uhr noch mal zu Gast in der Städtischen Galerie.

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Erstellt:
9. April 2022, 06:00 Uhr

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