Stuttgarter Theater zu Traumataweitergabe

Vom Model zur Alkoholikerin

Wie wirken sich traumatische Erfahrungen von Müttern auf ihre Kinder aus? Eine Antwort geben Andrea Leonetti und ChelseaHotel Ensemble in einer Cyber-Punk-Rock-Oper.

Andrea Leonetti blickt auf die Erlebnisse ihrer Mutter im Nachkriegsberlin zurück.

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Andrea Leonetti blickt auf die Erlebnisse ihrer Mutter im Nachkriegsberlin zurück.

Von Adrienne Braun

Das Stuttgarter ChelseaHotel Ensemble hat ein musikalisches Theaterprojekt entwickelt zur Frage, wie die Traumata der Mütter weitergegeben werden. Andrea Leonetti hat „Moni, Nico oder die Fragilität der Brust“ inszeniert.

Frau Leonetti, in Ihrem neuen Theaterprojekt geht es um die Vererbung von Traumata. Wie kamen Sie darauf?

Ich habe festgestellt, dass Nico von der Rockband Velvet Underground die gleiche Geschichte wie meine Mutter hat: Beide wurden 1938 geboren und sind in Berlin in der Tauentzienstraße aufgewachsen mit einer alleinerziehenden Mutter, die sich im Nachkriegsberlin durchschlug. Beide haben mit 14 die Schule verlassen und eine Lehre angefangen, die eine im KaDeWe, die andere nebenan bei Schuh-Leiser. Und weil sie gut aussahen, haben beide die Kollektionen vorgeführt, sind also praktisch Models geworden und dadurch der Hinterhofarmut entkommen. Nico ist nach Paris gegangen und meine Mutter hat bürgerlich geheiratet.

Was ist an den Parallelen interessant?

Niko wurde heroinsüchtig und ist an den Folgen gestorben. Meine Mutter wurde alkoholkrank, nachdem der bürgerliche Traum geplatzt war, wurde aber aus eigener Kraft trocken und war 25 Jahre lang Suchthelferin in Stuttgart. Ich habe mich gefragt, ob die Generation unserer Mütter und Großmütter überhaupt eine Chance hatte auf ein glückliches, selbst bestimmtes Leben. Dadurch bin ich auf transgenerationale Traumaweitergabe gekommen und die Frage: Was macht das mit uns?

Und?

Ich habe keine Antwort, aber wir haben während der Probenzeit viel über das Leid und das Leben unserer Großmütter und Mütter erfahren. Meine Mutter hatte furchtbare traumatische Erfahrungen wie fast alle in ihrer Generation. Und es gab kaum eine Großmutter, die in der Zeit keine sexuelle Gewalt erlebt hat.

Und das ist der Stoff Ihrer „Cyber-Punk-Rock-Oper“? Wie kann man sich das vorstellen?

Judith Haustein hat für uns Livemusik komponiert. In einem Raum erzählen die Akteurinnen und Akteuren von ihren Müttern und Großmüttern. Dann gibt es einen Sprechchor, der Sachtexte zur Traumaweitergabe vorstellt. Diese Puzzlesteine muss man dann im eigenen Kopf zusammensetzen.

Das Publikum bewegt sich dabei auch?

Ja, es gibt mehrere Etappen durch den Bunker. Es ist ein toller Ort, man merkt, dass es ein Bunker ist, ohne, dass es klaustrophobisch wird. Das passt gut zum Thema. Denn zum Beispiel die Großmutter der Komponistin saß im Zweiten Weltkrieg in diesem Bunker im Stuttgarter Westen. Im Zuge unserer Gespräch haben wir festgestellt, dass von vielen die Großeltern in Bunkern waren, sodass sich die Frage stellte, was hat das mit Ihnen gemacht, was haben sie dort erlebt?

Insgesamt kein leichter Stoff, oder?

Wir haben schon versucht, es nicht zu schwer darzustellen, Aber manches muss man eben thematisieren. Da es sicher Fragen geben wird und wir die Menschen nicht einfach so entlassen wollen, wird es nach jeder Vorstellung ein Publikumsgespräch geben und wird ein Psychoanalytiker dabei sein, der auf das Thema spezialisiert ist.

Stuttgarter Ensemble

GruppeDie Stuttgarter Schauspielerin Andrea Leonetti war lang Teil der Stuttgarter Gruppe Lokstoff. Vor drei Jahren hat sie das ChelseaHotel Ensemble gegründet, das im Team Stoffe entwickelt und sie gemeinsam mit Bildenden Künstlern und Videokünstlern auf die Bühne bringt.

Produktion Vorstellungen von „Moni, Nico oder die Fragilität der Brust“ am 14., 15., 19. bis 21. Dezember, Kultur im Bunker, Stuttgart, Rosenbergstraße 23. Karten unter chelseahotelensemble@gmail.com oder Tel. 01520/3632405.

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Erstellt:
12. Dezember 2024, 19:14 Uhr

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