Highlights in Cannes
Wagemutige Stoffe und ein Comeback
„Emilia Pérez“ – Ein ausufernder Thriller aus der Welt der mexikanischen Drogenkartelle, Bodyhorror und Selbstoptimierungszwang mit geballter Frauenpower in „The Substance“ und Politisches („Limonov: The Ballad“, „The Apprentice“): Cannes konzentriert sich nach einem verhaltenen Auftakt wieder auf die Filme.
Von Patrick Heidmann
Von einem drohenden Streik der Filmvorführer sowie anderer Festival-Mitarbeiter*innen oder auch den vergangene Woche noch kolportierten Gerüchten über #MeToo-Enthülllungen war übers lange Pfingstwochenende bei den Filmfestspielen in Cannes plötzlich keine Rede mehr. Denn nach einem leicht verhaltenen Auftakt sorgte erfreulicherweise etwas ganz anderes für – teilweise kontroversen – Gesprächsstoff. Nämlich die Filme selbst, die um die Goldene Palme konkurrieren.
Den ersten dringend benötigten Energieschub im Wettbewerb lieferte Jacques Audiard mit seinem neuen Film „Emilia Pérez“. Der Franzose, der in Cannes vor neun Jahren den Hauptpreis gewann, erzählt dieses Mal eine Geschichte aus der Welt der mexikanischen Drogenkartelle. Die aufrechte Anwältin Rita (Zoe Saldaña) lässt sich, nicht zuletzt mangels adäquater Bezahlung und um ihrem korrupten Boss zu entkommen, auf einen Deal mit einem der skrupellosesten Gangster des Landes ein. Dessen Anliegen ist ein ziemlich ungewöhnliches: er will nicht nur aussteigen und Frau (Selena Gomez) und Kinder im Ausland in Sicherheit wissen, sondern sich vor allem den lange gehegten Traum einer geschlechtsangleichenden Operation erfüllen und endlich die wahre Identität als Frau ausleben. Einige Jahre später tritt Emilia Pérez (Karla Sofía Gascón) wieder an ihre Anwältin heran, um nach Mexiko zurückzukehren. Doch eine Wiederannäherung an die Familie gestaltet sich ebenso schwierig wie eine Aussöhnung mit der eigenen Vergangenheit, zumal in der vom spurlosen Verschwinden tausender Opfer der Kartelle traumatisierten Heimat.
Gangster-Thriller und Musical in einem
Was sich bereits wie eine reichlich kuriose Angelegenheit liest, ist auf der Leinwand sogar noch deutlich ausufernder und schräger. Audiard geht es weniger um eine realistische Auseinandersetzung mit dem Kriminalitätsproblem Mexikos, sondern um eine wilde Mischung aus Gangster-Thriller, Seifenoper und Musical. Richtig gelesen: gesungen und getanzt wird in „Emilia Pérez“ nämlich auch. Nicht alle Songs sind gleichermaßen überzeugend und ein paar Hänger hat der Film ohne Frage. Aber Saldaña war nie besser, Gascón hat eine fantastische Leinwandpräsenz und insgesamt ist Audiards Film eine fantastisch aussehende, kraftvolle und überraschende Angelegenheit, die in Cannes stürmisch gefeiert wurde.
Als wagemutig und ungemein energetisch erwies sich auch „The Substance“ von Coralie Fargeat, die mit ihrem zweiten Spielfilm erstmals in Cannes vertreten ist. Die Französin erzählt von der Schauspielerin Elisabeth (Demi Moore), deren Hollywood-Karriere sich altersbedingt im stetigen Sinkflug befindet. Ihr Heil sucht sie in einem geheimen, neuen Zellteilverfahren: nach der Injektion der titelgebenden Substanz bildet der Körper eine zweite Version seiner selbst, in jünger und optimierter. Alle sieben Tage wechseln sich das alte und das neue Ich ab, während derer der andere Körper beinahe leblos zuhause im Badezimmer liegt. Doch Sue (Margaret Qualley), die als neue Version von Elisabeth makellos schön ist und umgehend eine Blitzkarriere macht, hat schnell keine Lust mehr, sich die Zeit zu teilen – und raubt Elisabeth immer mehr Zeit und Energie, was diese zusehends schneller altern lässt. Obwohl de facto ein und dieselbe Person, entspinnt sich zwischen beiden ein gnadenloser Zweikampf mit monströsem Finale.
Irgendwo zwischen „Das Bildnis des Dorian Gray“ und „Der Tod steht ihr gut“, aber vor allem spürbar inspiriert von Bodyhorror à la David Cronenberg erzählt Fargeat blutig und satirisch von den Schönheitsidealen und dem Jugendwahn, denen sich Frauen nicht nur in den patriarchalen Strukturen der Filmbranche unterwerfen – und dabei nicht zuletzt Raubbau an sich selbst betreiben. Die Botschaft ist in „The Substance“ (der wie viele Filme im Wettbewerb deutlich zu lang geraten ist) dabei einigermaßen schlicht, doch die Umsetzung umso gelungener, im poppigen Retro-Look durchstilisiert und selbstbewusst exaltiert.
„Wir sind nicht gegen Männer, nur gegen Arschlöcher“ antwortete Demi Moore in der Pressekonferenz lachend auf besorgte Fragen männlicher Journalisten. Und ließ sich ansonsten in Cannes zu Recht feiern. Die 61-Jährige, die in ihrer Karriere immer wieder auf ihr Aussehen reduziert wurde und auch aufgrund ihres Alters lange keine substanzielle Hauptrolle mehr gespielt hat, feiert mit einer schonungslosen, in jeder Hinsicht expliziten Performance schließlich ein fulminantes Comeback.
Neben all diesen reizvollen Frauenfiguren gab es natürlich auch ein paar Männer auf der Leinwand zu sehen. Hoch umstrittene zumal. Der russische, in seiner Heimat mehrfach juristisch verfolgte und verurteilte Regisseur Kirill Serebrennikow erzählt in „Limonov: The Ballad“ vom Schriftsteller und Politiker Eduard Limonov, mit besonderem Fokus auf dessen Zeit in New York und die Rückkehr nach Moskau nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Hauptdarsteller Ben Whishaw ist wie eigentlich immer eine Wucht. Doch dass Serebrennikow in seinem überlangen Film kaum Platz hat für Limonovs letzte Lebensjahre, in denen er sich immer mehr dem Nationalbolschewismus verschrieb und etwa die Annexion der Krim befürwortete, stößt unangenehm auf.
Trump als Monster
Unterdessen beschönigt Ali Abbasi in „The Apprentice“ eher wenig. Der iranisch-schwedische Regisseur erzählt von Donald Trump in den 1980er Jahren und wie er zu populistischen Demagogen wurde, der aktuell zum zweiten Mal US-Präsident werden möchte. Ein zu den Finanziers des Films gehörender Trump-Anhänger hat sich bereits empört geäußert über das Bild, das der Film von seinem Protagonisten zeichnet (exzellent verkörpert von Sebastian Stan).
Doch eigentlich bringt „The Apprentice“ kaum Neues über Trump zutage. Als eine Art komödiantisches Psychogramm mit ein wenig Ursachenforschung funktioniert die kanadisch-dänische Koproduktion allerdings durchaus.