Ulrike Groos, Direktorin Kunstmuseum
„Wir wagen noch mehr Experimente“
Drei Millionen Besucher seit der Eröffnung 2005 – der Erfolg bleibt dem Kunstmuseum Stuttgart treu. Wie will die Direktorin Ulrike Groos das Haus weiter entwickeln?
Von Nikolai B. Forstbauer
Seit 2010 ist Ulrike Groos Direktorin des Kunstmuseums Stuttgart. Jüngst ist ihr Vertrag bis 2029 verlängert worden. Neue Pläne hat Groos bereits.
Frau Groos, eben für weitere fünf Jahre in Ihrem Amt bestätigt, geht Ihr Blick bestimmt schon wieder nach vorne. An was arbeiten Sie gerade?
Etliche unserer Planungen gehen weit in die Zukunft, nicht nur was Ausstellungsprojekte anbelangt. So stehen uns etwa in den kommenden Jahren Sanierungs- und aufwendige Instandsetzungsarbeiten ins Haus. Und wie so oft läuft und entwickelt sich vieles parallel über Jahre hinweg, sodass ich stets in verschiedene und auch sehr unterschiedliche Verantwortungsbereiche eingebunden bin. Das sind als Geschäftsführerin eines Museums einerseits administrative und unternehmensstrategische Aufgaben, die Abstimmung mit dem Stiftungsrat und Stakeholdern oder die Akquise finanzieller Mittel, die zunehmend wichtiger aber auch schwieriger wird.
…das heißt, die Kuratorin Ulrike Groos muss erst einmal zurückstehen?
Das wäre mein Andererseits: Ich werde auch weiterhin kuratieren, etwa bereits im Herbst die Ausstellung von Sarah Morris. Und für das nächste Jahr plane ich gerade zusammen mit allen Kurator:innen und Volontärinnen im Schulterschluss eine ganz besondere Ausstellung.
Sie verweisen sicher auf das Jubiläum 20 Jahre Kunstmuseum Stuttgart am Schlossplatz?
Genau, 2025 feiert das Kunstmuseum Stuttgart erfreulicherweise gleich ein Doppeljubiläum – 20 Jahre Kunstmuseum am Schlossplatz, 100 Jahre Städtische Sammlung. Wir konzentrieren uns dabei bewusst auf das Wesentliche eines Museums und zeigen im gesamten Haus über sieben Monate hinweg ausschließlich Werke unserer Sammlung. Ich finde es reizvoll, die eigenen Bestände zu sichten, neu zu strukturieren und zu präsentieren. Ganze Sammlungsbereiche oder einzelne Kunstwerke, die in den Depots schlummern, werden in anderen Konstellationen und mit ungewohnten Querverbindungen zu Schenkungen und Ankäufen der vergangenen Jahre wieder ins Bewusstsein gerückt.
Die Sammlung kommt buchstäblich in Bewegung?
Ja, es wird im positiven Sinne gespielt, es werden mehr Experimente, neue Deutungen gewagt, Umschichtungen gesucht. Auch widme ich mich der Konzeption eines Begleitprogramms. Es dürfte nicht verwundern, dass wir damit wieder den Schritt in benachbarte Disziplinen wie Musik und Literatur gehen. Geplant sind zahlreiche Veranstaltungen und Konzerte – und die Deutschlandpremiere einer Videoarbeit.
Aktuell brilliert das Kunstmuseum mit der Schau „Sieh Dir die Menschen an!“. Nimmt das Publikum diese Aufforderung an?
Ja, unbedingt! Die Ausstellung ist nicht nur zahlenmäßig bislang ein Erfolg, auch sprechen wir ein breites und diverses Publikum an, was nicht zuletzt an den wunderbaren Kooperationspartner:innen liegt, die wir für das Projekt gewinnen konnten. Hervorzuheben ist hier insbesondere die erstmalige Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Deren Workshopangebot für Schulklassen „Schubladendenken“ beschäftigt sich sehr kenntnisreich und zugleich nachhaltig mit Vorurteilen, sozialer Ausgrenzung und Diskriminierung.
Wie sind die Rückmeldungen?
Sehr positiv, wir hören immer wieder, dass sich die Schüler:innen auch noch lange nach dem Museumsbesuch über die verschiedenen alltäglichen Diskriminierungsformen austauschen, die sie in Gedankenexperimenten durchlaufen konnten.
Die Schau überrascht mit einem Dix-Dialog von internationalem Format: Anita Berber trifft auf weitere Damen in Rot. Wie wichtig ist auch für das Stuttgarter Dix-Gewicht eine solch prominent besetzte „Ausstellung in der Ausstellung“?
Die Beschäftigung mit Otto Dix und der Neuen Sachlichkeit ist für das Kunstmuseum Stuttgart von anhaltender Bedeutung, da Künstler wie Kunstströmung einen wichtigen Sammlungsschwerpunkt des Hauses bilden. Ein Anspruch des Kunstmuseums ist es, die Bestände immer wieder neu in den Blick und als Ausgangspunkt für Ausstellungen zu nehmen, etwa indem wir wie hier gesellschaftsrelevante Fragen an sie richten.
In dieser Ausstellung lassen sich zuvorderst Künstlerinnen entdecken. Wie ist Ihre Erfahrung: Verändern Ausstellungen wie diese den Blick auf die Künstlerinnen-Gesamtriege?
Davon bin ich überzeugt. Allein schon durch die Sichtbarmachung von solchen Künstlerinnenpersönlichkeiten verändert sich langfristig auch deren öffentliche Wertschätzung. Besondere Berücksichtigung in der Ausstellung „Sieh Dir die Menschen an!“ finden ja vor allem Frauen, die in der Weimarer Republik die neusachliche Kunst entscheidend beeinflusst haben, oft allerdings marginalisiert wurden.
An wen denken Sie?
Künstlerinnen wie Grethe Jürgens, Kate Diehn-Bitt, Dodo oder Elsa Haensgen-Dingkuhn prägten das soziale, politische und kulturelle Leben und waren aktiv an der Konstruktion wie auch Reflexion unterschiedlicher Frauentypen und Geschlechterrollen beteiligt. Vieles, was wir heute wieder in einer deutlich größeren Öffentlichkeit diskutieren, haben diese Künstlerinnen bereits mit ihren Arbeiten verhandelt. Das ist schon beeindruckend.
Wie immer wird die Schau umfassend von einem Begleitprogramm flankiert. Am 5. März wird es hier etwa um Bildverarbeitungstechniken gehen. Heißt dies auch, dass für Sie eine Ausstellung immer Impulse für weitergehende Fragen provoziert?
Die Themen, denen wir uns in Ausstellungen widmen, hängen viel mit den Geschehnissen in der Welt und unserer Gesellschaft zusammen. Sie sollen im Bestfall in sie hinein- beziehungsweise zurückwirken. Mit einer Veranstaltungsreihe wie „mittendrin“, die wir gemeinsam mit der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und dem Institut für Kunstgeschichte der Universität Stuttgart dreimal jährlich ausrichten, nehmen wir regelmäßig in Ausstellungen dargestellte Diskurse auf und entfalten sie im Gespräch mit Künstler:innen, Wissenschaftler:innen und Aktivist:innen.
... wie Cemile Sahin am 5. März ....
Ja, sie ist gemeinsam mit der Kuratorin Defne Ayas zu Gast, um über das Potenzial wie auch die Risiken von Bildbearbeitungsprogrammen und Gesichtserkennungssoftwares zu sprechen. Cemile Sahin hat für „Sieh Dir die Menschen an!“ mit der raumgreifenden Installation „Alpha Dog“ die in der Weimarer Zeit allgegenwärtigen Typisierungs- und Klassifizierungstendenzen in die Gegenwart übertragen.
Es ist noch bis April Zeit, die Schau zu sehen. Haben Sie in „Sieh Dir die Menschen an!“ eigentlich einen Lieblingsraum oder gar ein Lieblingsbild?
Wenn ich mich für ein Werk entscheiden müsste, würde ich keines der naheliegenden, da auffälligen Gemälde wählen, sondern eher eine kleine Grafik, die inhaltlich viel zu erzählen hat: Hanna Nagels „Selbstbildnis“ von 1929. Für diese Lithographie fügte sie ihre Physiognomie in die vielfältigen Idealfrauen der Weimarer Zeit ein – die „moderne Frau“, die „Künstlerin“, die „Liebhaberin“, die „Mutter“ –, und fand doch in keiner zu sich selbst. Denn in keiner Rolle fühlte sie sich so richtig wohl.
Damit war sie nicht allein, oder?
Nein, viele der Künstlerinnen, die wir in der Ausstellung zeigen, definierten sich selbst als moderne „Neue Menschen“, zugleich waren sie sich der Differenz von Wunschbild und sozialer Realität bewusst. Dieser Widerspruch wird in diesem Bild sehr eindrücklich vor Augen geführt.
Die Direktorin und die aktuelle Sonderschau
Erfolgsfrau Ulrike Groos, 1963 in Schlüchtern geboren, studierte Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Ethnologie an den Universitäten von Würzburg, New York und Münster, wo sie 1994 in Kunstgeschichte und Musikwissenschaft über das Thema „Ars Musica in Venedig im 16. Jahrhundert“ promoviert wurde. Nach einem wissenschaftlichen Volontariat am Westfälischen Landesmuseum für Kunst- und Kulturgeschichte Münster und ihrer Mitarbeit 1997 im Projektbüro der Ausstellung Skulptur.Projekte Münster war sie 1997/1998 Projektleiterin der manifesta 2 – Europäische Biennale für Zeitgenössische Kunst in Luxemburg.
ErfolgsschauNoch bis zum 14. April zeigt das Kunstmuseum Stuttgart die Schau „Sieh Dir die Menschen an! Das neusachliche Typenporträt in der Weimarer Zeit“. Im Mittelpunkt der Ausstellung steht das neusachliche Typenporträt im historischen Kontext der Weimarer Zeit (1918–1933). Künstler:innen wie Otto Dix, George Grosz, Jeanne Mammen und Hanna Nagel geben in vielen ihrer Bildnisse gesellschaftlichen Typen wie etwa der „Neuen Frau“ oder der „Arbeiter:in“ Kontur. Diese Darstellungen waren beeinflusst von einer allgegenwärtigen Debatte: Der Suche nach dem „Gesicht der Zeit“. Rückblickend wird deutlich, dass viele Stereotype und Klischees von damals bis heute nachwirken und weiterhin den Blick auf unser Gegenüber beeinflussen. Den Bogen in die Gegenwart schlägt das Projekt mit einer eigens für die Ausstellung entwickelten Installation von Cemile Sahin.