Filmwinter in Stuttgart
Würstchen unter der Senfsonne
Die 38. Ausgabe des Stuttgarter Filmwinters feiert bis 22. Januar die gesamte Bandbreitemedienbasierter Kunst – und bietet Einblicke in bunte Welten.
Von Kathrin Horster
In scharfem Curry-Gelb strahlt eine Senfsonne über einer aus Fleisch getürmten Berglandschaft. Würstchen mit aufgemalten Gesichtern gurken durch von weißen Fettschlieren durchzogene Schluchten. Wer das Video zum satirischen Song „Fleisch ist Hot“ der Band Dino Paris & der Chor der Finsternis anschaut, kann wegen des hohen Ekelfaktors binnen zwei Minuten und 45 Sekunden mindestens zum Vegetarier werden. So knapp ist die Laufzeit des Kurzfilms bemessen, der sowohl online als auch im Vor-Ort-Programm der 38. Ausgabe des Stuttgarter Filmwinters zu sehen ist.
Verrückt, kreativ, nachdenklich
Bis zum 22. Januar werden dort nun eine Vielzahl solcher verrückter, kreativer, aber auch nachdenklich zeitkritischer Filmkunstpreziosen präsentiert. Das „Festival for Expanded Media“, wie sich die Schau im Untertitel selbst beschreibt, bietet sämtlichen Formen medienbasierter Kunst eine Plattform: Vom Kurzfilm über Games und „Augmented Reality“, also medial erweiterter Realität, bis hin zur Kunst sowohl im Internet als auch im öffentlichen Raum. Es gibt Ausstellungen, Performances und Vorträge – nicht nur im zentralen Festivalcenter auf den Bühnen des Fitz Figurentheaters und Theater Tri-Bühne, sondern auch in der Gedok Kunstgalerie, im Club White Noise, in den Stuttgarter Innenstadtkinos und im Kino Delphi, in der Stadtbibliothek und in der Galerie des Institutes für Auslandsbeziehungen, kurz IFA. Wer das Programm umfassend genießen will, sollte also physisch mobil sein.
Die intellektuell anregenden Werke fordern vom Publikum außerdem erhöhte Flexibilität im Denken – und Handeln. Schließlich können Werke wie etwa die VR-Single-Experience des musikalischen Monodrams „Erwartung“ (1909) von Arnold Schönberg nur interaktiv erlebt werden. „VR“ steht für eine im Computer generierte „Virtuelle Realität“, in die man mit Hilfe einer Brille eintauchen kann. Im Falle von Schönbergs „Erwartung“ (Fitz, ab 17.1.) schlüpfen Nutzer in die Rolle einer Frau, die nachts auf der Suche nach ihrem Liebsten durch einen Wald irrt – und auf eine Leiche stößt.
Performance in der Kirche
Das Thema der Vergänglichkeit und die Sichtweise vom „Kino als mobile Einbalsamierung“, wie es im Festivalkatalog heißt, durchzieht das ganze Programm. Das klingt zunächst morbide, dabei geht es um den Film als Medium, das Flüchtiges für die Nachwelt konserviert, selbst aber auch vor dem Verfall gerettet werden muss. Dass Kunst eben auch nur für den Moment entsteht und so nie wieder reproduzierbar ist, thematisiert die Performance „The Endless Mile“ von Johannes DeYoung, der Orgelmusik mit Computerkunst verbindet. „Jedes Mal, wenn das Kunstwerk präsentiert wird, werden neue Arrangements visueller Elemente in einzigartiger Kombination zusammengestellt“, verspricht die Ankündigung. Wann die Performance in der Kirche St. Maria in Stuttgart-Süd konkret stattfindet, wird via Instagram bekannt gegeben. Neben Orgeln und Computern produzieren auch Glühbirnen Musik, wie Michael Vorfeld im Club White Noise (17.1., 20.30 Uhr) beweisen wird.
Jenseits solcher Experimente beleuchten verschiedene Kurzfilmrollen das Leinwandschaffen von Kreativen aus der ganzen Welt. Prämiert werden die Werke im internationalen Kurzfilmwettbewerb, im Wettbewerb für Filme mit einer Lauflänge von bis zu maximal zwei Minuten, dazu Arbeiten aus dem Bereich Expanded Media sowie Musikvideos mit dem Buggles Award, um den auch die eingangs beschriebene Rhapsodie in Rosa, „Fleisch ist Hot“, ins Rennen geht. Die Welt ist frei und bunt beim Filmwinter, wem es angesichts der düsteren Realität aber doch schwarz vor Augen wird, kann am Tag von Trumps Inauguration im Escape-Room-Spiel „Gretas Erbe“ (20.1., White Noise, 17 Uhr) der Gegenwart entfliehen – zumindest zwei tröstende Stunden lang.
Filmwinter. Bis 22. Januar, Infos und Programm unter www.filmwinter.de