Opposition spricht vom einem „Massaker“
104 Tote durch giftigen Alkohol in der Türkei
In der Türkei sterben Dutzende Menschen, nachdem sie gepanschte Spirituosen getrunken haben. Die Opposition wittert dahinter eine islamische Umerziehung durch die Erdogan-Regierung.
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Raki gilt in der Türkei als Nationalspirituose, ist aber inzwischen sehr teuer geworden.
Von Susanne Güsten
Die Türkei erlebt die schlimmste Welle von Todesfällen durch schwarz gebrannten Alkohol seit Jahren. In der Metropole Istanbul und in der Hauptstadt Ankara sind seit Neujahr 104 Menschen gestorben, nachdem sie illegalen Alkohol getrunken hatten. Rund 70 weitere Opfer müssen auf den Intensivstationen der Krankenhäuser behandelt werden. Die Opposition spricht von einem „Massaker“ und macht die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan mitverantwortlich: Die hohen Alkoholsteuern treiben viele Türken auf den Schwarzmarkt, wo häufig giftiges Methanol verwendet wird.
Die Opposition wirft dem Präsidenten vor, er wolle die türkische Gesellschaft nach islamischem Vorbild umerziehen. Innerhalb von zehn Jahren ist der Kaufpreis für eine Flasche des Nationalschnapses Raki um mehr als das 15-fache gestiegen.
60 Prozent des Verkaufspreise entfallen auf die Steuer
Beim Verkauf von Alkohol, Zigaretten und Benzin kommt in der Türkei neben der Mehrwertsteuer eine Sonderverbrauchssteuer hinzu. Seit der jüngsten Steueranhebung zum Jahreswechsel entfallen bei einer Dreiviertel-Literflasche Raki rund 60 Prozent des Kaufpreises auf Steuern. Obwohl nur etwa zwölf Prozent der 86 Millionen Türken Bier, Wein oder Schnaps trinken, bringen die Sondersteuern auf Alkohol dem Staat jährlich mehr als sechs Milliarden Euro ein.
Viele Verbraucher kaufen deshalb billigen Schnaps aus dem Internet, wie Özgür Aybas, Verbandschef der türkischen Alkohol-Einzelhändler, beobachtet hat. Oft werde dann aber nicht Schnaps mit dem für den Genuss geeigneten Ethanol geliefert, sondern Produkte mit dem giftigen Methanol, sagte Aybas dem Fernsehsender Tele1. Methanol wird unter anderem in der chemischen Industrie verwendet.
Schwere Vergiftungen werden erst 10 bis 24 Stunden später offenbar
Experten und Medien rufen die Verbraucher zur Vorsicht auf. In den ersten Stunden, nachdem sie eine Flasche mit Schwarzgebranntem getrunken hätten, glaubten viele Menschen an einen normalen Rausch, erklärte die Istanbuler Ärztekammer. Erst zehn bis 24 Stunden später könnten Beschwerden wie Seh- und Gleichgewichtsstörungen auf giftigen Alkohol hinweisen.
In Istanbul wurden nach einem Bericht der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu bisher 71 Alkoholtote seit Jahresbeginn gezählt, in Ankara waren es 33, wie der dortige Gouverneur Vasip Sahin mitteilte. Eine ähnliche Häufung von Todesfällen hatte es zuletzt vor vier Jahren gegeben. Gouverneur Sahin sagte, die Behörden hätten bei Razzien im nordwesttürkischen Düzce und im zentralanatolischen Konya rund hundert Tonnen Ethanol und Methanol gefunden. In Istanbul wurden nach Medienberichten zehntausende Flaschen mit illegalem Alkohol beschlagnahmt. Gegen insgesamt 34 Verdächtige erging Haftbefehl, wie Anadolu meldete. Alkohol sei generell eine „schädliche Substanz“, sagte Gouverneur Sahin.
Opposition fordert geringer Alkoholsteuern
Solche Warnungen seien überflüssig, sagt die Opposition. Ihrer Meinung nach können die Verbraucher durchaus mit Alkohol umgehen, werden aber vom Staat den Schwarzbrennern in die Arme getrieben. „Dies ist inzwischen ein Massaker, und die Regierung schaut zu“, sagte der Parlamentsabgeordnete Mustafa Adigüzel von der Oppositionspartei CHP. Die Istanbuler Ärztekammer forderte, die rechtlichen Grundlagen für eine schwere Bestrafung der Alkohol-Panscher zu schaffen und die bestehenden Möglichkeiten einer Strafminderung zu streichen.
Als wichtigstes Mittel gegen die Schwarzbrenner nennen Regierungskritiker eine Senkung der Alkoholsteuern, um den illegalen Anbietern das Handwerk zu legen. Die Türkei sei vom Alkohol-Verbrauch her im internationalen Vergleich fast das Schlusslicht, „aber bei den Alkohol-Steuern liegen wir an der Spitze“, sagte CHP-Politiker Adigüzel der Zeitung „Cumhuriyet“. Auch Einzelhandelsvertreter Özgür Aybas sieht in den hohen Steuern den wichtigsten Grund dafür, dass in der Türkei immer wieder viele Menschen am illegalen Alkohol sterben: „Wenn sich daran nichts ändert, wird das so weitergehen.“