Folgen des Klimawandels

1,5-Grad-Grenze nur zeitweilig überschreiten? Ist auch riskant!

Das 1,5-Grad-Ziel gilt vielen ohnehin als nicht mehr erreichbar, deshalb werden Szenarien für eine vorübergehende Überschreitung durchgespielt. Deren Folgen wären aber unumkehrbar, warnt eine Studie.

Der Schatten eines toten Baumes wird auf den rissigen Boden des Sau-Stausees in Vilanova de Sau.

© AP/dpa/Emilio Morenatti

Der Schatten eines toten Baumes wird auf den rissigen Boden des Sau-Stausees in Vilanova de Sau.

Von Markus Brauer/dpa

Eine Erderwärmung auf mehr als 1,5 Grad Celsius zuzulassen und dann zu versuchen, wieder unter diese Marke zu kommen, ist eine riskante Strategie. Zu diesem Schluss kommt die Analyse eines internationalen Wissenschaftsteams in einer neuen, im Fachmagazin „Nature“ veröffentlichten Studie.

Denn in der Zeit, in der die durchschnittliche Temperatur der Erde über 1,5 Grad liegt, könnten Entwicklungen geschehen, die sich nicht zurückdrehen lassen, mahnen die Forscher.

Nature research paper: Overconfidence in climate overshoot https://t.co/3e3bFMBzs9 — nature (@Nature) October 9, 2024

Wirksamste Strategie gegen Erderwärmung

Stattdessen dürfte die Begrenzung des globalen Temperaturanstiegs die wirksamste Strategie zur Eindämmung des Klimawandels sein, meint die Gruppe um Carl-Friedrich Schleussner und Joeri Rogelj vom Internationalen Institut für Angewandte Systemanalyse (IIASA) im österreichischen Laxenburg.

There is no guarantee that new technologies will help limit the consequences of overshooting 1.5°C say the authors of a new @Nature study led by IIASA's @CarlSchleussner. Much more needs to be done to bring emissions down and peak temperatures as low as possible.… pic.twitter.com/Z4OMXOVek1 — IIASA (@IIASAVienna) October 10, 2024

Geschieht dies nicht, drohen großen Natursystemen möglicherweise unumkehrbare Umwälzungen. „Fünf große Kippsysteme laufen bereits Gefahr, bei der derzeitigen globalen Erwärmung ihren jeweiligen Kipppunkt zu überschreiten“, heißt es beim Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK).

Dabei geht es um das grönländische und westantarktische Eisschild, die subpolare Wirbelzirkulation im Nordatlantik, Warmwasserkorallenriffe und einige Permafrost-Gebiete.

 

 

Werden die Klima-Kipppunkte bald erreicht?

„Wenn die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius ansteigt, könnten mit borealen Wäldern, Mangroven und Seegraswiesen drei weitere Systeme in den 2030er Jahren vom Kippen bedroht sein“, heißt es seitens des PIK. Würden mehrere Kipppunkte überschritten, bestehe zudem das Risiko eines katastrophalen Verlusts der Fähigkeit, Pflanzen für Grundnahrungsmittel anzubauen.

Unter Kipppunkten versteht man in der Klimaforschung, wenn durch kleine Veränderungen ein Domino-Effekt ausgelöst wird, dessen Folgen unter Umständen nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Das Konzept der Kipppunkte und damit verbundene Unsicherheiten werden unter Wissenschaftlern weltweit intensiv und zum Teil konträr diskutiert.

 

 

Pariser Klimaziel kaum noch zu halten

Eine Trendwende beim Ausstoß von Treibhausgasen hat es bisher nicht gegeben. Im Gegenteil: Die Emissionen haben 2023 einen neuen Rekordwert erreicht. Unter Berücksichtigung der weltweiten Klimapolitik gehen viele Klimaforscher mittlerweile davon aus, dass das Ziel aus dem Übereinkommen der UN-Klimakonferenz in Paris 2015 nicht mehr erreicht werden kann.

Bei der Weltklimakonferenz 2015 in Paris hatten die Staaten weltweit vereinbart, die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad im Vergleich zur vorindustriellen Zeit und deutlich unter 2 Grad begrenzen zu wollen.

Das Problem wird am Beispiel der 1-Grad-Schwelle deutlich: Der Zeitraum von 2002 bis 2021 war der erste, in der die globale Durschnitttemperatur im Mittel ein Grad über der vorindustriellen Zeit lag. Es wurde – und das eben erst am Ende dieses langen Zeitraums – festgelegt, dass die 1-Grad-Schwelle um das Jahr 2012 überschritten wurde.

 

 

Der einzige Weg: Emissionen senken

Doch weil zunehmend wahrscheinlicher wird, dass dieser Grenzwert nicht eingehalten werden kann, entwickeln Wissenschaftler immer häufiger Szenarien, in denen der Grenzwert für eine gewisse Zeit überschritten wird („Overshoot“). Eine Umkehr der Erwärmung könnte demnach möglich sein, indem negative Netto-Kohlenstoffemissionen erreicht werden – auch, indem CO2 aus der Luft entnommen wird.

Solche Vorstellungen hält Schleussner für gefährlich: „Nur wenn wir in diesem entscheidenden Jahrzehnt viel mehr tun, um die Emissionen zu senken und die Höchsttemperaturen so niedrig wie möglich zu halten, können wir Schäden wirksam begrenzen“, erklärt er.

 

 

Zusätzliche Erwärmung durch weitere Effekte

Konkrete Modellberechnungen nahmen die Forscher für die Länge der Überschreitung der 1,5-Grad-Grenze vor. Dabei blieb die höchste Temperatur unter zwei Grad. Sie meinen, dass der Temperaturrückgang nach der Überschreitung schwieriger sein könnte als erwartet.

So ermittelten sie auch eine zusätzliche Erwärmung um 0,02 Grad pro Jahrhundert, indem der Grenzwert überschritten wird, und zwar durch CO2- und Methan-Emissionen aus tauenden Permafrostböden und erwärmten Torfmooren.

 

 

 

 

Der arktische Permafrost bedeckt etwa ein Viertel der Landfläche auf der Nordhalbkugel. Die mitunter seit hunderttausenden Jahren gefrorenen Böden speichern riesige Mengen von organischem Kohlenstoff in Form von abgestorbenen Pflanzenresten und anderem nicht zersetzen Material. Tauen die Dauerfrostböden Permafrost auf, werden durch einen mikrobiellen Prozess die Treibhausgase Methan und Kohlendioxid freigesetzt, die den Klimawandel weiter befeuern. Eine tickende Zeitbombe im Klimasystem.

Erdsystem reagiert zeitverzögert

Zudem würde der Meeresspiegel den Berechnungen zufolge um 40 Zentimeter pro Jahrhundert Grenzwertüberschreitung steigen – zusätzlich zu den 80 Zentimetern, die auch ohne das Überschreiten hinzukommen.

Weil das Erdsystem oft zeitverzögert auf Veränderungen reagiert, dürfte der Meeresspiegel noch Jahrhunderte ansteigen, selbst wenn die langfristigen Temperaturen sinken, mahnt das Wissenschaftsteam.

 

 

Sind Negative-Emissionen-Technologien die Lösung?

Die Studienautoren befassen sich auch mit Negative-Emissionen-Technologien: Dabei wird CO2 aus der Luft herausgefiltert und sicher verwahrt, etwa durch künstliche Steinbildung oder durch Lagerung in früheren Erdgasstätten.

Etwa zwei Millionen Tonnen CO2 werden mit diesen energieintensiven Technologien derzeit jährlich aus der Luft geholt – erheblich weniger als durch Aufforstung. Mehrere hundert Gigatonnen Kohlenstoff seien aber nötig, um die schlimmsten Szenarien zu verhindern, heißt es in der Studie.

Dennoch fordert das Team, die Technologie voranzubringen. „Wir empfehlen, dass wir uns auf eine ökologisch nachhaltige Kapazität von Negative-Emissionen-Technologien vorbereiten müssen, um uns gegen langfristige, risikoreiche Folgen abzusichern, die aus stärkeren als erwarteten Klimarückkopplungen resultieren“, heißt es in der Studie.

 

 

Auch Technik hat ihrer Grenzen

Diese Empfehlung kritisiert Nadine Mengis vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel in einem Kommentar, ebenfalls in „Nature“: „Obwohl dieses Konzept interessant ist, geht es davon aus, dass es eine Kapazitätsreserve bei Negative-Emissionen-Technologien geben wird, die weltweit schnell eingesetzt werden kann – eine Annahme, die ich für zu optimistisch halte.“

Generell aber stimmt sie der Einschätzung der Autoren zu, dass eine schnelle Reduktion der Treibhausgase besser wäre als ein Überschreiten des Grenzwerts und eine anschließende Rückkehr darunter.

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Erstellt:
10. Oktober 2024, 13:33 Uhr
Aktualisiert:
10. Oktober 2024, 13:45 Uhr

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