15 Jahre nach dem Amoklauf von Winnenden
Interview Am 11. März 2009 tötete der 17-jährige Tim K. in Winnenden und Wendlingen 15 Menschen und zuletzt sich selbst. Als Chef der Polizeidirektion Waiblingen leitete der damals 48-jährige Ralf Michelfelder alle Einsätze, die in der Albertville-Realschule sowie die im Umkreis.
Herr Michelfelder, wie haben Sie 2009 als Leiter des Polizeieinsatzes die Geschehnisse des Amoklaufs empfunden?
Wir hatten uns bereits seit 2006 mit dem polizeilichen Einsatz bei einem Amoklauf befasst und konsequent das trainiert, von dem wir alle hofften, dass es nie eintreten wird. Es war uns allen klar, dass es keine Situation geben darf, bei der die Polizei vor der Schultür steht und drinnen weiterhin Schüsse fallen. Das barg ein hohes Risiko für alle Kolleginnen und Kollegen in sich, aber jeder war bereit, dieses zu tragen.
Wie und von wem wurde die Polizei damals informiert?
Die ersten Alarme gingen von Schülerinnen und Schülern direkt aus den Klassenzimmern der Albertville-Realschule herein. Da war zweifelsfrei klar, dass es sich um einen echten Alarm handelt, weil man im Hintergrund Schüsse hören konnte.
Wie gings dann weiter?
Das Lagezentrum der Polizeidirektion Waiblingen hat dann sofort das Polizeirevier Winnenden verständigt. Dort sind drei Kollegen ins Auto gesprungen und zur Schule gefahren. Einer davon, der Jüngste von den dreien, war noch auf der Toilette, kam heraus mit noch nassen Händen, dem hat man eine MP in die Hand gedrückt und der erfuhr erst im Streifenwagen, wo es überhaupt hingeht und um welchen Sachverhalt es sich handelt. Dadurch, dass das Lagezentrum und das Revier so schnell reagiert haben, sind die schon nach dreieinhalb Minuten an der Schule angekommen.
Was haben die drei Beamten
ausrichten können?
Die sind in die Schule rein, haben sich kurz im Foyer orientiert, weil sie sich im Gebäude nicht auskannten, haben dann im oberen Stockwerk Schüsse gehört und sind zur Treppe. Oben an der Treppe stand der Täter und hat auf sie geschossen. Üblicherweise geht man in so einer Situation in Deckung und wartet, bis man weitere Verstärkungs- oder Spezialkräfte hat. Aber die drei Kollegen sind, obwohl sie beschossen wurden, die Treppe hoch, sind dem Täter nachgeeilt und haben ihn somit aus der Schule gedrängt. Der hatte noch über 200 Schuss Munition bei sich. Und in der Schule waren etwa 560 Schüler und Lehrkräfte. Hätten die Kollegen nicht so schnell reagiert, wäre zu befürchten gewesen, dass noch weitere Todesopfer zu beklagen gewesen wären.
Wie waren die drei Winnender
Polizisten geschützt?
Wir hatten damals schon vor dem Vorfall darauf gedrängt, dass man die Schutzwesten den ganzen Dienst über trägt, denn – das war mein Credo – wenn’s drauf ankommt, dass man sie braucht, hat man keine Zeit mehr, sie anzuziehen.
Wenn man das hört, das waren wahre Heldentaten.
Ja, am Nachmittag hab ich mit den drei Kollegen gesprochen und sie gefragt, wie es ihnen geht, und dann sagten die mir: Wir wussten genau, was wir zu tun haben. Einer hat dann noch gesagt: Hätten wir das vorher nicht so ausführlich geübt, hätten wir uns in der Situation nicht weiter nach vorne getraut. – Diesen drei Kollegen gebührt mein höchster Respekt und Dank. Ich bin froh, dass wir uns trotz kritischer Stimmen zum hohen Trainingsaufwand und zum persönlichen Risiko nicht davon abbringen ließen, diesen Weg zu gehen, zum Schutz der Menschen, denen wir dienen und zur Sicherheit der eigenen Kameraden.
Wann und wo haben Sie selbst vom Amoklauf erfahren?
Wir hatten in Urbach die jährliche Dienstbesprechung. Wir waren mit 300, 350 Kolleginnen und Kollegen in der Gemeindehalle. Während eines Vortrags eilte ein Kollege auf mich zu und sagte: Das Lagezentrum hat angerufen, wir haben einen Amoklauf in Winnenden. Dann bin ich ans Mikrofon getreten und hab’ den Redner unterbrochen, hab’ das bekannt gegeben, hab’ angewiesen, dass sofort alle Kolleginnen und Kollegen nach Winnenden fahren, Treffpunkt Freibad, und von dort eingewiesen werden.
Und wer hat dann von wo aus den Einsatz der Polizei geleitet?
Mein damaliger Stabsleiter Peter Hönle ist nach Winnenden gefahren und hat den Einsatz dort geführt, während ich nach Waiblingen ins Lagezentrum gefahren bin und von dort aus den Einsatz koordiniert habe.
Wie sind Sie weiter vorgegangen?
An erster Stelle ging es darum, die Schule zu durchsuchen: Ist der Täter noch dort? Dann mussten unter Polizeischutz alle Schüler und Lehrkräfte evakuiert werden, nicht nur von dieser Schule, sondern auch von den benachbarten Schulen. Zudem mussten wir die Innenstadt sichern und natürlich nach dem Täter suchen. Wir wussten nicht: Wie ist er geflüchtet, mit was ist er geflüchtet, hält er sich in der Gegend auf, versteckt er sich hier irgendwo? Wir hatten rund 800 Kolleginnen und Kollegen in Winnenden und im Umkreis im Einsatz.
Woher haben Sie eigentlich gewusst, nach wem Sie suchen müssen?
Die erste Aufgabe der Kriminalpolizei war, uns sehr zügig entsprechende Hinweise zu liefern. Also Schülerinnen und Schüler befragen, wer der Täter war, wie er aussah, wie er angezogen war. Hat er einen Führerschein, hat er ein Fahrzeug, war er allein oder hat man noch jemanden Zweites gesehen? All diese Informationen waren für die Fahndung von enormer Bedeutung.
Inwieweit beschäftigen Sie die Geschehnisse und die persönlichen Schicksale heute noch?
Dieser Tag hat vielen Menschen das Leben gekostet, den Lehrerinnen, Schülerinnen und dem Schüler in der Albertville-Realschule, dem Gärtner im Schlosspark, dem Kunden und dem Verkäufer im Autohaus und letztlich dem Täter selbst. Über alle betroffenen Familien hat er entsetzliches Leid gebracht. Aber auch unter den Einsatzkräften. Alle von uns sind bis an die Grenzen ihrer Belastungsfähigkeit gegangen und einige darüber hinaus. Die Ereignisse und die Bilder bleiben in mir haften. Aber ich habe einen Weg gefunden, diese zu beherrschen. Das hoffe ich auch für alle Betroffenen.
Was wurde damals von der Polizei gut gemacht, was weniger gut?
Jeder hat damals sein Bestes gegeben. Ich empfand es als abstoßend, wie Tage später von Teilen der Medien und angeblichen Experten aus der Distanz versucht wurde, dies schlechtzureden. Glücklicherweise war die überragende Mehrheit dankbar für das, was Rettungskräfte und Polizei geleistet hatten.
Welche Lehren hat man bei der Polizei aus den Ereignissen gezogen und was wurde eventuell verändert?
Jeder Einsatz wird im Nachgang selbstkritisch bewertet. Für uns stand eine Verbesserung der Schutzausstattung der Kolleginnen und Kollegen im Vordergrund. Wichtig war uns zudem, die Zusammenarbeit mit den Rettungsdiensten im Einsatz zu verbessern. Deshalb trainierten wir fortan mit dem Roten Kreuz gemeinsam.
Wurden die Polizisten nach dem Amoklauf ausreichend psychologisch betreut?
Wir hatten noch am Einsatztag einen eigenen Bereich Betreuung eingerichtet. In dem waren etwa 60 Kolleginnen und Kollegen, Polizeipsychologen, Polizeiärzte und Polizeiseelsorger über Wochen aktiv. Die persönliche Belastung war individuell unterschiedlich. Am Montag nach der Tat gab es einen ökumenischen Gottesdienst für die Polizei. Das hat vielen geholfen. Weitere Kolleginnen und Kollegen wurden ambulant oder stationär behandelt, aber leider haben sich einige nicht wieder erholt. Sie haben an diesem Tag ihre Gesundheit für die Gesellschaft gegeben.
Haben Sie noch Kontakt zu überlebenden Opfern oder Hinterbliebenen?
Ich suche den Kontakt nicht offensiv. Aber wenn wir uns zufällig begegnen, dann sind dies stets freundliche Momente. Ich bewundere die Kraft dieser Familien.
Das Gespräch führte Florian Muhl.