„Fieberkurve“ der Erde
485 Millionen Jahre Klimawandel auf einen Blick
Wie hat sich das Klima der Erde in den letzten 485 Millionen Jahren verändert? Und wo lagen die Extreme? Antworten liefert nun eine neue Studie, welche die Entwicklung der globalen Oberflächentemperaturen rekonstruiert.
Von Markus Brauer
Die menschengemachte Erderwärmung nimmt so schnell zu wie nie seit Beginn der instrumentellen Aufzeichnungen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Allein im vergangenen Jahrzehnt – 2014 bis 2023 – ist die Temperatur durch Aktivitäten des Menschen um rund 0,26 Grad gestiegen.
Erdklima ist instabil und fragil
Das terrestrische Klima instabil und fragil: Immer wieder kam es zu drastischen Kaltzeiten, unterbrochen von extremen Hitzephasen. Die Erde könnte zum „Hothouse“ – zur Hitzkammer – oder zum „Icehouse“ – zur Kältekammer – werden. Derzeit stehen alle Zeichen auf eine neues irdisches Treibhauszeitalter
Das Klima auf der Erde wandelt sich zudem nicht immer langsam und allmählich. In der Erdgeschichte gab es immer wieder rasche Veränderungen mit heftigen globalen Temperatursprüngen. Klimaforscher warnen: Das kann sich wiederholen. Das weltweite Klima kann wieder kippen. Selbst eine geringe weitere Erwärmung könnte einen Stein ins Rollen bringen, der zu einer noch viel wärmeren Erde führt.
Wie stark kann das Klimapendel der Erde ausschlagen?
Umso wichtiger ist es zu wissen, was solche Schwankungen auslöst und wie stark das irdische Klimapendel ausschlagen kann. Rekonstruieren lässt sich dieses sogenannte Paläoklima etwa anhand von Fossilien, Sediment- und Eisbohrkernen sowie Isotopenanalysen – also die Untersuchung der verschiedenen Atomarten eines chemischen Elements.
Allerdings sind diese Zeugnisse oft lückenhaft. Vollständige Referenzkurven reichen daher nur rund 66 Millionen Jahre zurück.
Zurück in die Urzeit: Rekonstruktion der Klimageschichte
Doch jetzt gibt es eine neue Rekonstruktion, die 485 Millionen Jahre zurückreicht. Bis zum Ende des Kambriums, jenes Erdzeitalters, in dem die Vorfahren fast aller heutigen Tierarten entstanden. Das Kambrium ist das älteste Zeitalter des Erdaltertums und erstreckte sich von vor rund 545 bis vor etwa 490 Millionen Jahren.
Dafür werteten Emily Judd vom Smithsonian National Museum of Natural History in Washington und ihr Team zunächst die Daten von fünf verschiedenen geochemischen Klimaarchiven aus – darunter Isotopenanalysen verschiedenster Fossilien und Bohrkerne. Insgesamt erhielten sie dadurch mehr als 150 000 Datenpunkte aus verschiedenen Zeiten und Orten weltweit.
Ihre Studie ist im aktuellen Fachmagazin „Science“ erschienen.
A new study co-led by the Smithsonian and the University of Arizona offers the most detailed glimpse yet of how Earth’s surface temperature has changed over the past 485 million years. Read more here: https://t.co/nz1N7RPishpic.twitter.com/eH9CMJhunx — Smithsonian NMNH (@NMNH) September 19, 2024
Hunderte Modellsimulationen für ein Klima-Puzzle
Trotz dieser ungeheuren Datenfülle bleiben jedoch zahlreiche Lücken. „Es ist, als wenn man versucht, das fertige Bild eines Tausend-Teile-Puzzles anhand von nur einer Handvoll Puzzlestücken zu rekonstruieren“, erklärt Judd. Deshalb nutzten sie und ihre Kollegen zusätzlich mehr als 850 Modellsimulationen, um zeitliche oder räumliche Lücken zu schließen.
Das Grundprinzip ist dabei ähnlich wie bei den Modellen für die Wettervorhersage. „Nur dass wir sie nicht nutzen, um das Wetter der Zukunft vorherzusagen, sondern um vergangenes Klima abzubilden.“
Temperatur-Spanne größer als vermutet
Das Ergebnis ist eine irdische „Fieberkurve“: Eine fast lückenlose Kurve, welche die Veränderungen der Mitteltemperaturen in den letzten 485 Millionen Jahren widerspiegelt und die einige bemerkenswerte Informationen liefert.
Die neue Klima-Rekonstruktion zeigt eindeutig, dass die Temperaturen auf dem Planeten sehr viel stärker schwankten als vermutet. „Die Spanne reicht von Minimumwerten von 11 Grad während der letzten Eiszeit bis zu Maximalwerten von 36 Grad vor 93 bis 89 Millionen Jahren“, berichten Judd und ihr Team. „Diese Spannbreite ist größer als bei früheren Rekonstruktionen.“
Erde glich länger Treibhaus als Eiskammer
Zugleich macht die Rekonstruktion deutlich, dass die Erde häufiger und länger einem warmen Treibhaus glich als einem Kühlschrank:
- Warmphasen mit Temperaturen zwischen 25 und 36 Grad machten rund 41 Prozent der Gesamtzeit aus.
- Kühlere Phasen mit Mitteltemperaturen zwischen 11 und 22 Grad kamen dagegen in rund 31 Prozent der Zeit vor.
- Die restlichen 27 Prozent der Zeit entfallen auf Übergangsperioden zwischen beiden.
War es zeitweise zu heiß für das Leben auf der Erde?
Die Analysen ergaben außerdem, dass es vor allem in den Tropen zeitweise deutlich heißer war als bisher angenommen. „Es gibt große Regionen der Kontinente, in denen es in den warmen Monaten heißer wurde als 45 Grad“, schreiben die Forscher.
„Das wirft die Frage auf, ob die regionalen Temperaturen während solcher Treibhausphasen nicht die thermischen Grenzen für mehrzelliges Leben überschritten haben.“ Denn die obere Toleranzgrenze der meisten heutigen Lebewesen liegt bei 35 bis 40 Grad.
24 Grad Durchschnittstemperatur
Heutige Tiere und der Mensch sind von einer eher kühlen Klimaphase geprägt. Denn seit Beginn des Erdzeitalters des Oligozäns vor rund 33 Millionen Jahren herrscht auf der Erde ein vergleichsweise kühles Klima. So liegen die heutigen Mitteltemperaturen bei rund 15 Grad.
Im Schnitt der gesamten 485 Millionen Jahre lag das Mittel aber bei 24 Grad, wie das Team ermittelt hat. „Menschen und die Arten, mit denen wir heute den Planeten teilen, sind daher eher an ein kaltes Klima angepasst“, erläutert Koautorin Jessica Tierney von der University of Arizona.
CO2 spielte entscheidende Rolle
Überraschend war auch der enge Konnex von Temperatur-Entwicklung und CO2-Werten: Die Rekonstruktion ergab, dass sich die Mitteltemperaturen für jede Verdopplung des CO2-Gehalts um knapp acht Grad erhöhten.
Klimaforscher bezeichnen diesen Zusammenhang als Klimasensitivität des Erdsystems: Die Klimasensitivität gibt an, um wie viel Grad sich die Temperatur der Erdoberfläche ändert, wenn die Energiebilanz um ein Watt pro Quadratmeter steigt – weltweit und über das Jahr gemittelt. „Dies illustriert eindeutig, dass Kohlendioxid der dominante Einflussfaktor auch über geologisch lange Zeiträume hinweg ist“, erläutert Tierney.
Ein so enger Zusammenhang zwischen CO2 und globalen Oberflächentemperaturen sei überraschend gewesen, resümieren die Klimaforscher. „Über diese großen Zeiträume hinweg erwarten wir, dass Nicht-CO2-Einflüsse wie Veränderungen der Sonneneinstrahlung oder andere Treibhausgase ebenfalls eine Rolle spielen.“ Eine mögliche Erklärung wäre, dass sich einige dieser Effekte gegenseitig ausgleichen.