Armut
Ab wann gilt man in Deutschland als arm?
Die Inflationsrate ist aktuell zwar auf einem stabilen Niveau, dennoch sind die Preiserhöhungen der letzten Jahre deutlich spürbar. Aber ab wann wird Verzicht zur Armut?
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Auch in Deutschland gibt es Armut. Erfahren Sie, wann man in Deutschland als arm gilt. Alles Wichtige im Überblick.
Von Matthias Kemter
Armut zu definieren ist nicht ganz einfach, da neben finanziellen Aspekten auch Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung oder die gesellschaftliche Teilhabe eine Rolle spielen. Einen groben Eindruck, bei welchem Gehalt und unter welchen Lebensumständen man in Deutschland als arm gilt, geben Messungen und Sozialberichte.
Armutsrisikoschwelle liegt bei 1378 Euro netto
Wie Armut berechnet wird, ist nicht einheitlich definiert. In der Regel wird aber die Schwelle für das Armutsrisikos bei 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) der Gesamtbevölkerung (1) angesetzt. Dies ist auch EU-Norm. Statt dem Durchschnittswert aller Einkommen wird der Median-Wert verwendet, da dieser große Ausreißer ausschließt und sich nur auf die Mehrheit der Bevölkerung konzentriert. Für das Einkommen selbst wird dann das sogenannte Nettoäquivalenzeinkommen verwendet. Dieses ergibt sich aus dem Wert des Gesamteinkommens eines Haushaltes und der Anzahl und dem Alter der Personen, die von diesem leben. So können Einspareffekte durch gemeinsame Nutzung besser berücksichtigt werden.
Wer weniger als 60 Prozent des Median-Nettoäquivalenzeinkommens verdient, ist nach dieser Rechnung bereits armutsgefährdet. Für die letzten Jahre hat das Statistische Bundesamt folgende Armutsgefährdungsschwellen für das monatliche Einkommen ermittelt (2,3):
Absolute, relative und gefühlte Armut
Armut hat viele Gesichter. In der Regel denkt man beim Begriff „Armut“ an Hunger und Obdachlosigkeit. Sprich, wenn sich Menschen ihr Existenzminimum nicht mehr leisten können. Diese Armut wird auch Absolute oder extreme Armut genannt und sollte in Deutschland durch das Sozialsystem eigentlich ausgeschlossen werden. Dennoch existiert sie, da die Gründe bzw. Schicksale komplex sind. Die Weltbank definiert extreme Armut (4), wenn Menschen weniger als 2,15 US-Dollar am Tag zur Verfügung haben. Also das finanzielle Minimum, das eine Person zum Überleben braucht. Davon sind weltweit etwa 750 Millionen Menschen betroffen.
Von relativer Armut spricht man, wenn die finanziellen Mittel von Personen unterhalb der oben genannten Armutsrisikoschwelle liegen, also unter 60 Prozent des Medianeinkommens der Bevölkerung. Hier droht das Leben finanziell so weit eingeschränkt zu sein, dass ein „normales“ Leben bzw. die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben nicht mehr möglich ist, was zu Ausgrenzung und Isolation führen kann. Dann können zum Beispiel Rücklagen schlechter oder gar nicht angespart werden oder hochwertige bzw. gesunde Lebensmittel schwieriger eingekauft werden. Individuelle Unterschiede verstärken oder verringern das Armutsrisiko. Wer zum Beispiel in der Stadt wohnt und eine höhere Miete zahlt, hat ein höheres Risiko.
Seltener ist auch von dem Begriff der „gefühlten Armut“ die Rede. Diese wird nicht am Einkommen, sondern dem subjektiven Gefühl gemessen, ob sich ein Mensch wegen seiner wirtschaftlichen Situation ausgegrenzt oder diskriminiert fühlt.
Grenzen der Armutsmessung
Die amtliche Statistik zu Nettoäquivalenzeinkommen und somit auch der Armutsgefährdung beruhen auf Daten des sogenannten Mikrozensus, einer kleinen jährlichen Volkszählung. Dabei wird jedes Jahr rund 1 Prozent der Bevölkerung zu Arbeits- und Lebensbedingungen befragt. Aufgrund des großen Stichprobenumfangs bieten die Auswertungen tiefe demografische und regionale Untergliederungen bzw. Einblicke. Allerdings werden beim reinen Einkommensvergleich individuelle Umstände, wie zum Beispiel Rücklagen, Aktien oder Immobilien nicht berücksichtigt. Wem eine Wohnung gehört, der muss schließlich auch keine Miete zahlen.
Ausgrenzungsgefährdung: Armutsmessung nach materieller Deprivation (Entbehrung)
Ein weiterer Messwert, der zur Armutsmessung genutzt wird, ist die materielle Deprivation (5). Hier soll abgeschätzt werden, wie vielen Menschen wirklich das Allernötigste fehlt. Dabei wird ein durchschnittlicher Lebensstandard mit Hilfe eines Kataloges von bestimmten Gütern und Aktivitäten dargestellt und anschließend der Verzicht gemessen. Diese Daten werden ebenfalls im Rahmen des Mikrozensus erhoben und sollen die soziale Ausgrenzungsgefährdung durch den materiellen Verzicht aufzeigen. Dabei werden 13 Kriterien abgefragt. Wird im Rahmen der Selbsteinschätzung der Befragten bei mindestens 7 Kriterien ein Verzicht festgestellt, wird die Person als erheblich materiell und sozial depriviert eingestuft. In Deutschland waren das laut Hochrechnung etwa 6 Prozent aller Menschen. Die 13 Kriterien sind wie folgt:
- Unerwartete Ausgaben (min. 1250 Euro)
- Jedes Jahr einen einwöchigen Urlaub machen
- Abgewohnte Möbel ersetzen
- Regelmäßigen Freizeitbeschäftigungen nachzugehen
- Jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit
- Wöchentlich etwas Geld für sich selbst ausgeben
- Freunde/Familie zum Essen oder Trinken zu treffen
- Abgetragene Kleidung ersetzen
- Zahlungen rechtzeitig zu begleichen
- Unterkunft angemessen warm zu halten
- Ein Auto zu besitzen
- Zwei Paar Schuhe zu besitzen
- Eine Internetverbindung zu haben
Am niedrigsten lag die Quote 2024 mit 3,3 Prozent in Bayern. Der höchste Anteil an erheblich materiell und sozial deprivierten Menschen liegt mit 10,3 Prozent in Bremen.
Wer ist armutsbetroffen?
Ein weiteres Ziel des Mikrozensus ist die Erfassung der soziodemografischen Merkmale der Armutsgefährdung. Die höchste Armutsgefährdungsquote hatten im Jahr 2023 die folgenden Gruppen:
- Alter: 18 bis unter 25 Jahre – 25,0 Prozent
- Haushaltstyp: Ein(e) Erwachsene(r) mit Kind(ern) – 41,0 Prozent
- Erwerbsstatus: Erwerbslose – 50,7 Prozent
- Qualifikation: Niedrig – 38,5 Prozent
- Migrationshintergrund: Mit – 27,7 Prozent
Die niedrigste Armutsgefährdungsquote hingegen hatten folgende Gruppen:
- Alter: 50 bis unter 65 – 12,5 Prozent
- Haushaltstyp: Zwei Erwachsene mit einem Kind – 8,1 Prozent
- Erwerbsstatus: Abhängig Erwerbstätige – 7,9 Prozent
- Qualifikation: Hoch – 7,3 Prozent
- Migrationshintergrund: Ohne – 11,9 Prozent
Eine besonders hohe Armutsgefährdung haben demnach junge und alleinerziehende Menschen mit einer niedrigen Qualifikation und Migrationshintergrund. Das geringste Armutsrisiko haben hingegen gemeinsame erwerbstätige Haushalte mit einem Kind sowie hoher Qualifikation und ohne Migrationshintergrund. Nach Bundesländern verteilte sich die Armutsgefährdungsquote gemessen am Bundesmedian wie folgt:
- Baden-Württemberg: 13,5 Prozent
- Bayern: 12,8 Prozent
- Berlin: 20 Prozent
- Brandenburg: 15 Prozent
- Bremen: 28,8 Prozent
- Hamburg: 18,8 Prozent
- Hessen: 17,3 Prozent
- Mecklenburg-Vorpommern: 17,3 Prozent
- Niedersachsen: 17,1 Prozent
- Nordrhein-Westfalen: 18,8 Prozent
- Rheinland-Pfalz: 17,1 Prozent
- Saarland: 19,7 Prozent
- Sachsen: 16,9 Prozent
- Sachsen-Anhalt: 19,4 Prozent
- Schleswig-Holstein: 16,7 Prozent
- Thüringen: 17,3 Prozent
Das höchste Armutsrisiko besteht demnach in Bremen (28,8 %), Berlin (20 %) und im Saarland (19,7 %). Am geringsten ist das Armutsrisiko in Bayern (12,8 %), Baden-Württemberg (13,5 %) und Brandenburg (15 %).
Fazit:
Armut in Deutschland wird hauptsächlich über das Nettoäquivalenzeinkommen gemessen, wobei die Armutsrisikoschwelle 2024 bei 1.378 Euro für Alleinlebende liegt. Neben der finanziellen Lage spielen auch soziale und materielle Deprivation eine Rolle, die anhand von Verzicht auf grundlegende Güter und Aktivitäten erfasst wird. Besonders gefährdet sind junge Menschen, Alleinerziehende sowie Erwerbslose, während gut ausgebildete, berufstätige Haushalte mit einem Kind das geringste Armutsrisiko aufweisen.