Ärztemangel greift um sich
Übervolle Praxen allerorten sprechen eine deutliche Sprache: Die Schere zwischen Bedarf und Angebot an medizinischer Hilfe geht offenbar immer weiter auseinander. Im Altkreis Backnang gibt es bereits erste weiße Flecken mit Gemeinden ohne Allgemeinarzt.
Von Armin Fechter
BACKNANG. Christoph Jäger, Bürgermeister in Großerlach, erinnert sich an vergangene Zeiten: „Wir hatten einmal drei Ärzte in der Gemeinde.“ Davon ist Großerlach heute weite entfernt: Kein einziger Mediziner betreibt am Ort eine Praxis, und alle händeringenden Versuche Jägers, daran etwas zu ändern, sind zumindest bisher gescheitert.
Nicht viel besser ergeht es der Nachbargemeinde Spiegelberg. Bürgermeister Uwe Bossert kann zwar auf eine dermatologische Praxis am Ort verweisen, die als Zweigpraxis einer Heilbronner Einrichtung betrieben wird und dreimal wöchentlich besetzt ist. Einen Allgemeinmediziner gibt es in Spiegelberg aber nicht, und der Versuch, eine Telepraxis zu etablieren, liegt auf Eis, seit die in der Ohne-Arzt-Praxis eingesetzte Technik für die Covid-19-Hilfe verlegt wurde. Der Rathauschef will die Hoffnung dennoch nicht aufgeben – aber er kann sich kaum noch vorstellen, einen Vollmediziner für Spiegelberg zu gewinnen, eher machbar sei vielleicht eine Lösung mit einer Nebenbetriebsstätte.
Der Negativtrend bei der Ärzteversorgung treibt auch den Backnanger SPD-Landtagsabgeordneten Gernot Gruber um. Er hat im Rahmen einer Kleinen Anfrage Auskunft von Sozialminister Manfred Lucha bekommen, der die Anzahl von Ärzten und Praxen im Rems-Murr-Kreis zwar für ausreichend hält. Gleichwohl sei der Trend bedenklich. Gruber zieht das ernüchternde Fazit: „Die Wahrscheinlichkeit, dass Ihnen auf der Straße ein Allgemeinmediziner begegnet, ist erheblich gesunken.“ Denn im Kreis haben in den letzten fünf Jahren 76 Hausarztpraxen geschlossen, also fast ein Drittel. „Das ist eine extrem kurze Halbwertszeit auf dem so wichtigen Gebiet der Gesundheit“, gibt Gruber zu bedenken – zumal sich viele Bürgermeister, Gemeinderäte und das Land für den Erhalt von Arztpraxen eingesetzt haben.
Der Versorgungsgrad mit Hausärzten liegt bei 90 Prozent.
Der Landkreis ist in drei Versorgungsgebiete eingeteilt: Backnang (entspricht dem Altkreis Backnang im Rems-Murr-Kreis), Waiblingen/Fellbach und Schorndorf (mit Welzheimer Wald). In den Gebieten Waiblingen/Fellbach und Backnang beläuft sich der Versorgungsgrad mit Hausärzten auf gut 90 Prozent, in Schorndorf hingegen auf 104 Prozent – gemessen an der Versorgung, die allgemein für erforderlich gehalten wird. Bei weniger als 100 Prozent droht laut Kassenärztlicher Vereinigung eine Unterversorgung. „Die wird umso akuter, je weiter man sich aus den Ballungszentren herausbegibt“, beobachtet Gruber.
Teilräume wie der Welzheimer Wald oder das Murrtal werden dabei nicht separat beurteilt, aber die Kommunen werden einzeln betrachtet, um eine gezielte Förderung zu ermöglichen. So gelten Aspach, Althütte, Großerlach und Spiegelberg als Gemeinden, die vom Landesförderprogramm Hausärzte unterstützt werden können. Voraussetzung ist dabei ein Versorgungsgrad von unter 75 Prozent. Im erweiterten Kreis der zukünftig – perspektivisch – förderfähigen Städte und Gemeinden listet das Ministerium Murrhardt und Sulzbach an der Murr auf.
Ohne Gegensteuern sei eine Trendumkehr nicht zu erwarten, sagt Gruber. Denn bereits über die Hälfte der Hausärzte im Rems-Murr-Kreis sei älter als 55 Jahre. Der Abgeordnete hält deshalb eine massive Förderung von Hausarztpraxen auf dem Land für nötig und verweist auf ein Zehn-Punkte-Programm, in dem die SPD dies seit Jahren fordert. Erfreulicherweise habe die grün-schwarze Landesregierung mit Unterstützung der Opposition die Zahl der Medizinstudienplätze bereits erhöht. Hilfreich seien auch die 120000 Euro gewesen, die seit 2012 aus dem Förderprogramm Landärzte an sechs Gemeinden im Kreis gegangen sind: „Sie reichen aber nicht aus, um den Negativtrend zu stoppen.“
So geht das Problem nach Meinung des Großerlacher Bürgermeisters Jäger nicht nur den ländlichen Raum an: „Die Arztpraxen sind alle voll, auch in den Städten.“ Es gebe einen allgemeinen Ärztemangel, der auch noch viele andere Gemeinden treffen werde. Wobei das Förderprogramm durchaus als Zünglein an der Waage den Ausschlag für die Niederlassungsentscheidung geben könne. Eine wesentliche Ursache des Mangels sieht Jäger darin, dass ein Mediziner erst die Facharztausbildung absolvieren muss, ehe er sich niederlassen darf – und dann bleibe er lieber in seinem Fachbereich, als sich als Landarzt niederzulassen. Oder er habe aus familiären und sozialen Gründen kein Interesse mehr an einem entsprechenden Wechsel.
Bei Zahnärzten sieht die Versorgung nach Grubers Recherchen etwas besser aus. Auch da rangiert Backnang beim Versorgungsgrad mit 90 Prozent hinter Schorndorf. Die Zahl der Zahnarztpraxen im Kreis ist in fünf Jahren nur leicht gesunken, von 181 auf 176, die Zahl der Kinderarztpraxen hingegen dramatisch von 31 auf 20. Abgesehen von der notorischen Unterversorgung mit Psychotherapeuten (82 Prozent) hat der Rems-Murr-Kreis bei Fachärzten relativ hohe Versorgungsgrade: Hautärzte 110,8 Prozent, Kinderärzte 111,9 Prozent, HNO-Ärzte 113,7 Prozent, Augenärzte 114,2 Prozent, Frauenärzte 115,8 Prozent und Urologen 116 Prozent. Bei Chirurgen/Orthopäden ergeben sich sogar 132,5 Prozent.
Bei der räumlichen Verteilung der Kassensitze wird die wohnortnahe Erreichbarkeit aus Sicht des Abgeordneten oft noch zu wenig berücksichtigt – hier gibt es allgemeine Vorgaben mit der Erreichbarkeit eines Hausarztes in 20, eines Kinderarztes in 30 und von Augenärzten/Frauenärzten in 40 Autominuten. Zur Erreichbarkeit über den öffentlichen Nahverkehr gibt es keine Vorgabe.
Die langen Arbeitswochen des klassischen Landarztes sieht, so Gruber weiter, mancher Nachwuchsmediziner kritisch: „Hier könnten Gemeinschaftspraxen eine Option sein, um Praxisübergaben leichter zu organisieren und Arbeitszeiten attraktiver zu gestalten für die wichtige Arbeit der ärztlichen Versorgung der Bevölkerung.“ Es werde aber nicht den einen Königsweg geben, um bei der Ärzteversorgung zu einer Trendumkehr zu kommen, ist Gruber überzeugt: Da seien viele Ebenen zugleich gefordert.
Wolfgang Steinhäußer, Vorsitzender der Ärzteschaft Backnang, wirft einen Blick auf die Hintergründe der Mangelsituation:
Der meist in Einzelpraxis tätige Hausarzt mit einer 50- bis 60-Stunden-Woche sei eine aussterbende Spezies: Für niederlassungswillige Jungmediziner erscheine dies eher abschreckend als erstrebenswert.
Die von den Universitäten abgehenden oder aus den Krankenhäusern ausscheidenden Nachwuchsärzte bevorzugen, so Steinhäußer weiter, meist eine klar begrenzte Wochenstundenzahl (meist 40 Stunden nicht übersteigend) und ein Anstellungsverhältnis statt einer mit finanziellen Risiken behafteten Selbstständigkeit.
Seit Jahren gelte die Faustformel: Für einen in den Ruhestand gehenden Praxisarzt sind mindestens zwei Nachfolger vonnöten, um das bisherige Arbeitspensum abzudecken. Dabei würden Gemeinschaftspraxen statt Einzelpraxis und Angestelltenstatus zur Verringerung von Bürokratie favorisiert.
Die Vorsitzenden der Ärzteschaft Backnang sind laut Steinhäußer aktuell in intensivem Gespräch mit der Kassenärztlichen Vereinigung und den Kommunen, um frühzeitig attraktive Voraussetzungen für niederlassungswillige Jungmediziner in Backnang und Umgebung zu schaffen. Im Frühherbst wollen sich die Hausärzte der Region zu einem Meinungsaustausch und zur Einleitung weiterer Maßnahmen treffen.
Damit den weniger werdenden Hausärzten wieder mehr Zeit für die Betreuung der Patienten bleibt, benötigen sie, so Steinhäußer, Entlastung von verschiedenen Seiten: finanzielle Planungssicherheit durch gleichbleibende, auskömmliche Honorare – beispielsweise werde ein Hausbesuch weiterhin mit nur knapp 24 Euro honoriert, davon seien noch alle Unkosten, Sozialabgaben und Steuer abzuziehen; Umsetzung des lange versprochenen Bürokratieabbaus (betrifft vor allem die Krankenkassen); Wegnahme des ökonomischen Drucks auf die Krankenhäuser, sodass diese die Patienten nicht vorzeitig in die Praxen entlassen müssen; finanzielle Förderung bei Anstellung von Hausärzten in etablierten Praxen – oft werde kein weiterer Mediziner in einer etablierten Praxis angestellt, weil dies vom selbstständig tätigen Hausarzt finanziell nicht leistbar ist.
Dass andere Regionen nach den Daten der Kassenärztlichen Vereinigung noch viel stärker betroffen und bedroht sind, bedeute für Backnang keine Entwarnung, zeige aber auf, dass die bevorstehende Versorgungsproblematik nicht nur auf regionaler und Kreisebene gemeistert werden kann: „Für unsere Region hat der Vorstand der Ärzteschaft das Problem erkannt und ist in Kooperation mit den lokalen Akteuren auf dem Weg, um Gegenmaßnahmen einzuleiten.“