Ärzteversorgung im Raum Backnang bereitet Sorge
Die Unterversorgung im Raum Backnang nimmt nach der Schließung weiterer Praxen von Allgemeinmedizinern dramatische Züge an. Gleichzeitig wächst die Arbeitsbelastung der verbliebenen Mediziner und ihres Personals immens an. Die Belastungsgrenze ist bald erreicht.
Von Matthias Nothstein
Backnang. Die ärztliche Versorgung im Raum Backnang war in den vergangenen Jahren nicht gut, sie hat sich aktuell verschlechtert, sie wird in naher Zukunft noch problematischer und in einigen Jahren gar dramatisch werden. Jahr für Jahr geben Ärzte ihre Praxis auf, ohne einen Nachfolger zu haben. Und die übrig gebliebenen Mediziner stehen vor riesigen Herausforderungen. In Backnang hat erst im Sommer das Arztehepaar Ludmilla und Waldemar Arndt die Praxistür für immer hinter sich zugezogen und in vier Wochen wird Alexander Fütterer es ihnen gleichtun.
Aber auch in den Jahren zuvor sind etliche Praxen aufgrund von beruflicher Umorientierung, Todesfällen oder Ruhestand zum Teil ohne Nachfolgelösung weggefallen – etwa Inge Müller-Faber, Lutz-Dietrich Schweizer, Karl-Martin Rösch oder Helmut Ehleiter. Jens Steinat, der Vorsitzende der Backnanger Ärzteschaft, bezeichnet die Raumschaft als „deutlich unterversorgt“. Im Raum Backnang fällt der Versorgungsgrad bei Allgemeinmedizinern seiner Einschätzung nach demnächst unter 80 Prozent. Zum Vergleich: In Schorndorf liegt er bei 98 Prozent und in Waiblingen bei 94 Prozent. Und Steinat gibt weiter zu bedenken: „Die Altersstruktur in Backnang ist so, dass die Hälfte der Ärzte über 60 Jahre alt ist.“
Die Ärzte und deren Personal arbeiten derzeit alle am Anschlag
Deutliche Worte findet Ute Ulfert. Die Allgemeinmedizinerin spricht angesichts des niedrigen Versorgungsgrads von einem Albtraum. „Wir arbeiten derzeit alle am Anschlag, auch unser Personal.“ Die Ärztin muss zusammen mit den übrig gebliebenen Kollegen nicht nur die Patienten der aufgelösten Praxen übernehmen. Vielmehr gibt es noch andere Aspekte, die das Arbeitspensum ständig nach oben schrauben. Etwa die demografische Entwicklung, die Menschen werden immer älter, der Betreuungsgrad steigt. Zudem wird vieles in den ambulanten Bereich verschoben, was früher stationär versorgt wurde. Ulfert: „Der Blinddarm ist heute nach zwei Tagen daheim. Das heißt aber nicht, dass es diesen Patienten immer gut geht, die müssen oft auch versorgt und betreut werden.“
Dazu kommt die wachsende Stadt, Backnang hat inzwischen 38000 Einwohner. Und obendrein müssen auch Flüchtlinge aus den verschiedensten Ländern versorgt werden, die zum Teil schwere Krankheiten mitbringen. Ulferts Fazit ist klar: „Der Bedarf steigt ständig und unheimlich, und gleichzeitig sinkt das Angebot.“
Viele Ärzte nehmen keine neuen Patienten mehr auf
Da ist es nur ein schwacher Trost, dass das Phänomen bundesweit zu beobachten ist. Dabei hat Ulfert, die noch ein halbes Dutzend Ehrenämter innehat, die Energie von dreien: „Ich kann unheimlich viel arbeiten, wenn ich nicht gerade Termine am Abend habe. Üblicherweise gehe ich um 23 Uhr aus der Praxis raus. Ich bin schon belastbar, aber irgendwann ist Schluss. Und das gilt vor allem für mein Personal. Da gelten schließlich auch Arbeitsgesetze. Wir müssen auf die Balance achten. Dass mein Mann und ich sieben Tage arbeiten, das ist die eine Sache, aber das kann ich nicht vom Personal verlangen.“
Die Konsequenz lautet, keine neuen Patienten aufzunehmen, auch wenn dadurch viele derzeit unversorgt in der Stadt unterwegs sind. Ulfert: „Wenn die Belastung zu groß wird, dann muss auch ich mal sagen: Schluss, Aus, Ende. Das bin ich auch den Patienten schuldig, die ich bereits habe, denen habe ich das Versprechen gegeben, ich kümmere mich um euch.“
Kernproblem ist die Überbürokratisierung
Als würde all das noch nicht reichen, zeigen jetzt die Coronazahlen wieder steil nach oben. Im Hinblick auf die Pandemie hat Ulfert die Nase gestrichen voll, sie hat Tausende von Coronapatienten gesehen, „und nein, es geht nicht allen gut“. Erneut spricht die 64-Jährige von einem Albtraum: „Die letzten zweieinhalb Jahre waren die schlimmsten meiner gesamten beruflichen Laufbahn und es wird wieder schlimmer. Wenn ich morgens in die Praxis komme und schon weiß, dass ich heute keinen einzigen Termin frei habe, dann könnte ich...“
Vieles würde einfacher werden, wenn sich die Arbeit auf mehr Schultern verteilen würde. Aber nur wenige Ärzte wollen eine Praxis übernehmen. Für Steinat ist das Kernproblem die Überbürokratisierung. „Wir haben uns in eine Sackgasse hineinmanövriert, aus der müssen wir wieder herauskommen. Dafür verantwortlich sind in erster Linie die Politik und die Verwaltung.“ Ulfert wettert auch gegen die Krankenkassen: „Wenn die dann mitten in der Coronapandemie meinen, sie müssten die Bevölkerung dazu aufrufen, ,bitte macht mal wieder eure Gesundheitsvorsorge‘, und wir nicht mehr wissen, wo wir zuerst hinlangen sollen, dann muss ich sagen, die haben alle den Schuss nicht gehört.“ Ulfert fordert dazu auf, alles daranzusetzen, dass der Arztberuf attraktiv bleibt oder wieder wird. „Er hat mir immer viel Freude bereitet, aber es gibt auch ein Zuviel.“
Eine Niederlassung ist nicht mehr attraktiv
Die Ärzteschaft Backnang überlegt schon lange, was sie dazu beitragen kann, die Probleme zu bewältigen. Auch Steinats Vorgänger als Vorsitzender der Ärzteschaft, Wolfgang Steinhäußer, hatte das Problem auf dem Schirm. Immer ging es um das gleiche Problem: Es gibt zu wenig Ärzte, weil eine Niederlassung nicht mehr attraktiv ist. Eine schnelle Lösung ist laut Steinat nicht in Sicht, vielmehr werde sich die Versorgungslage in Backnang weiter verschlechtern. „Wir haben nicht die Möglichkeit, ad hoc Ärzte zu gewinnen, auch nicht zur Anstellung, die gibt es einfach nicht. Wir können nicht so schnell Nachwuchs generieren wie das etwa in Handwerksberufen der Fall ist. Wenn man heute etwas ändert im Studiengang, so wirkt sich das frühestens in zwölf Jahren auf die hausärztliche Niederlassung aus.“
Auch die Kliniken haben in Sachen Mediziner Nachwuchsprobleme. Noch arbeiten Ärzteschaft und Kliniken nicht gegeneinander und werben keine Kollegen ab. Wobei die Betonung auf „noch“ liegt. Auch die Klinken verlieren viele Ärzte, weil diese wegen Arbeitsbelastung und Überbürokratisierung in fachfremde Berufe wechseln.
Die Bürokratie ist laut Steinat das größte Problem: „Wir haben die Strukturen gegen die Wand gefahren, weil wir der Meinung sind, wir müssen alles regeln. Es funktioniert nicht mehr. Die Arbeitsbelastung muss massiv reduziert werden, und das geht nur auf Verwaltungsebene. Das müssen die Verantwortlichen verstehen.“
Wegfall der überflüssigen Dokumentation würde 20 Prozent Kapazität freisetzen
Als krasses Beispiel listet er die Dokumentationspflicht in Heimen auf. Pflegekräfte müssen bei Bewohnern täglich das Gewicht messen, „die sind mehr am Dokumentieren als am Pflegen“. Steinat fordert, den gesunden Menschenverstand mehr walten zu lassen. Es würde ausreichen zu erkennen, dass ein Patient deutlich abnimmt und dass es ihm schlechter geht. „Dazu braucht man nicht täglich messen, nur wegen 100 Gramm hin oder her.“
Außenstehende könnten sich nicht ausmalen, wie diese Dokumentationen ausgeartet sind. „Es kommt mir manchmal so vor, dass da Statistiken erstellt werden, damit andere ihren Job rechtfertigen können. Würde man die Dokumentation weglassen, so hätte man 20 Prozent mehr produktive Kapazität für die Patienten“, schätzt Steinat. „Ich sehe schwarz, dass sich etwas ändert, da das in den Verwaltungen zu einem Selbstläufer geworden ist. Deshalb verschlechtert sich die Versorgungslage weiter.“
Allein aus demografischen Gründen könnte es sein, dass in nächster Zukunft ein halbes Dutzend der 26 Allgemeinmediziner im Raum Backnang wegfällt. Allerdings nicht ersatzlos. Steinat: „Uns ist die Situation bewusst, die Kollegen bemühen sich um Nachfolger. Dass alle plötzlich weg sind, wird nicht eintreten, es wird sich schon der eine oder andere Nachfolger finden lassen.“