Ein Jahr Gaza-Krieg
Angst, Wut – und ein eigenartiger Stolz in Israel
Am 7. Oktober jährt sich zum ersten Mal der Angriff der palästinensischen Terrororganisation Hamas auf Israel. Er hat die israelische Gesellschaft traumatisiert – und verhärtet.
Von Mareike Enghusen
Ein Jahr ist vergangen seit dem 7. Oktober 2023, jenem Tag, an dem Terroristen der Hamas den Grenzzaun zwischen Gaza und Israel durchbrachen, rund 1200 Menschen ermordeten und 251 weitere als Geiseln verschleppten. Noch immer ist Israel im Krieg, an mehreren Fronten; noch immer harren rund hundert Geiseln in Gaza aus. Seit einem Jahr ist Israel ein Land im Ausnahmezustand.
Für ein Land mit 9,5 Millionen Einwohnern ist 1200 eine gewaltige Zahl: Bezogen auf die Bevölkerung Deutschlands ist das so, als wären 8300 deutsche Bürger ermordet worden. Dazu ist Israel ein kleines Land mit großen Familien und weit verzweigten Freundeskreisen. Fast jeder Mensch kannte mindestens eines der Opfer, ist auf die eine oder andere Weise mit wenigstens einer der Geiseln verbunden. Dass etliche der Gräueltaten auf Video festgehalten wurden, von den Terroristen selbst, von ihren Opfern, von Überwachungs- und Autokameras, dass die Szenen des Horrors noch immer nur einen Mausklick entfernt sind, vertieft noch das kollektive Trauma. Viele Israelis, gleich welcher politischen Couleur, beschreiben die Massaker als zweiten Holocaust.
Sorgen vor einem noch größeren Krieg
Über 40 000 Palästinenser sind bislang Gazakrieg umgekommen, über 300 israelische Soldaten dort gefallen. Zum ersten Mal hat Israels Erzfeind, das iranische Regime, den jüdischen Staat direkt angegriffen. Erst im April, dann Anfang Oktober schossen sie hunderte Raketen und Drohnen auf Israel ab. Seit Monaten warnen israelische und internationale Analysten, ein noch größerer Krieg könnte kurz bevorstehen.
Was macht eine solche Erfahrung mit einer Gesellschaft?
Es ist die Verhärtung, die sich am einfachsten feststellen lässt, weil sie in aller Öffentlichkeit stattfindet und bisweilen krasse Formen annimmt. Wie etwa der Ausschnitt aus einem Fernsehprogramm im Dezember, in dem der rechtsgerichtete Journalist Zvi Yeheskeli sagt, Israels Armee hätte zum Auftakt des Gazakrieges 100 000 Menschen töten sollen. Oder wie die Umfrage des Pew Research Centers vom Mai, in der ein Drittel der Befragten sagte, Israels Armee gehe in Gaza noch „nicht weit genug“ – zu einem Zeitpunkt, da bereits mehr als 30 000 Menschen dort umgekommen waren.
„Gefühl, allein zu sein auf der Welt“
„Seit dem 7. Oktober hat sich in der israelischen Gesellschaft das Gefühl verstärkt, dass die Israelis allein sind auf der Welt, dass wir nur mit Hilfe des Schwerts überleben“, meint Itamar Avneri. Der 39-Jährige sitzt im Tel Aviver Stadtrat und zählt zu den Gründungsmitgliedern von „Omdim Beyachad“ („Wir stehen zusammen“), einer sozialen Bewegung aus jüdischen und arabischen Bürgern Israels, die sich für Koexistenz und soziale Gerechtigkeit einsetzt.
„Das ist ein Gefühl, das viel Angst auslöst, viel Wut und auch eine eigenartige Art von Stolz. Ich kann diese Gefühle zum Teil verstehen: Auch ich habe Angst“, sagt Avneri. „Aber ich sehe auch, dass diese Gefühle rassistische Auswüchse hervorbringen. Nicht, dass es vor dem 7. Oktober hier keinen Rassismus gab. Aber er ist seitdem stärker hervorgetreten.“
Politische Umfragen zeigen zwar, dass die Koalition aus rechten, rechtsextremen und religiösen Kräften unter dem Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu im Falle von Neuwahlen keine Mehrheit mehr hätte.
Zuspruch für rechtsextremistischen Minister
Doch Netanjahus Likudpartei bliebe stärkste Kraft. Und die Partei des rechtsextremen Ministers für Nationale Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, der regelmäßig gegen Araber hetzt, könnte manchen Umfragen zufolge von aktuell sechs auf bis zu zehn Mandate wachsen.
Dazu hat sich der Raum des öffentlich Sagbaren seit dem 7. Oktober 2023 verengt. Wer in traditionellen oder sozialen Medien Mitgefühl mit Menschen in Gaza äußert, muss mit harschen Reaktionen rechnen. Davon betroffen sind nicht nur, aber vor allem Angehörige der arabischen Minderheit, die rund 20 Prozent der Bevölkerung ausmacht.
Ein prominentes Beispiel ist der Fußballspieler Dia Saba, der für den Erstligaverein Maccabi Haifa spielt. Seine Frau, Narmin Saba, schrieb kurz nach Ausbruch des Gazakrieges auf Instagram: „Auch in Gaza gibt es Kinder.“ Anhänger des Vereins begannen daraufhin, Dia Saba öffentlich zu attackieren: Warum distanzierte er sich nicht von dem Post seiner Frau? Warum sprach er nicht von den Opfern der Hamas? „Saba sollte meiner Meinung nach nie wieder das Trikot von Maccabi Haifa tragen“, sagte ein prominenter früherer Spieler des Vereins, Yaniv Katan. „Saba, geh in die Türkei, geh nach Katar – die werden dich willkommen heißen.“
„Der Raum dessen, was als akzeptable Äußerung gilt, hat sich verengt“
Es gibt zahlreiche Berichte von Menschen, die wegen eines Social-Media-Aufrufs zu Empathie mit den Menschen in Gaza ihre Jobs oder Studienplätze verloren oder gar von der Polizei verhört wurden.
Zu der Verhärtung des öffentlichen Diskurses dürften die israelischen Mainstreammedien maßgeblich beigetragen haben. „Der Raum dessen, was als akzeptable Äußerung gilt, hat sich definitiv verengt“, meint Keren Tenenboim-Weinbach, Professorin für Kommunikation und Journalismus an der Hebräischen Universität in Jerusalem. „Die Berichterstattung ist zutiefst israelisch, ihr Fokus ist nach innen gerichtet, auf das israelische Trauma. Es gibt bestimmte Personen, die nicht zu politischen Talkshows eingeladen werden – vor allem palästinensische Stimmen.“
Itamar Avneri bestätigt diese Entwicklung. „Ich habe das Glück, jeden Tag mit palästinensischen Freunden zusammenzusitzen“, sagt er. „Deshalb weiß ich: Israelische Medien sprechen nicht darüber, was in Gaza passiert. Sie veröffentlichen Opferzahlen, aber kaum persönliche Geschichten, keine Namen, keine Bilder.“ Zugleich aber gebe es andere Entwicklungen, die ihn hoffnungsvoll machten.
„Nach dem 7. Oktober hat die israelische Gesellschaft enorme Solidarität und Tatkraft bewiesen – im Gegensatz zur Regierung.“ Nach dem Terrorangriff gründeten Bürger im ganzen Land Initiativen, um Menschen zu helfen, die von dem Angriff betroffen waren: Aktivisten sammelten Spenden für all jene, die aus den Gemeinden nahe des Gazastreifens flüchten mussten; zahlreiche Freiwillige halfen den Familien der Verschleppten, sich politisch zu organisieren. Und seit Monaten gehen tausende Menschen Woche für Woche auf die Straße, um eine Waffenruhe und ein Abkommen zur Geiselbefreiung zu fordern.
Wird Israel zu einer „verschlossenen Gesellschaft“?
Ausgerechnet Omdim Beyachad wiederum, erzählt Avneri, sei während des vergangenen Jahres zu einer der größten und bekanntesten politischen Bewegungen des Landes geworden.
„Wir haben tausende neue Mitglieder dazugewonnen, und auf den sozialen Medien haben wir mehr Follower als die politischen Parteien. Nach dem 7. Oktober ist das alles andere als selbstverständlich. Wir hätten auch als marginalisierte Splittergruppe enden können. Dass das Gegenteil passiert ist, macht mich optimistisch.“
Er glaubt, es sei noch offen, in welche Richtung sich die israelische Gesellschaft in den kommenden Jahren bewege. „Es kann passieren, dass sie zu einer verschlossenen Gesellschaft wird, die nicht mehr an Frieden glaubt“, sagt er. „Aber meiner Meinung nach haben wir eine Chance auf eine bessere Zukunft. Solange das Licht noch nicht ausgeschaltet ist, müssen wir dafür kämpfen, dass es stärker wird. Das ist nicht immer einfach. Aber es ist immer das Richtige.“