Psychopharmaka

Antidepressiva: Und wie kriegt man die jetzt wieder los?

Wer Antidepressiva absetzt, hat mitunter mit starken Symptomen zu kämpfen. Wie häufig und wie schlimm das ist – da gehen die Meinungen unter Experten auseinander. Drei Stuttgarter erzählen, welche Probleme sie mit den Medikamenten hatten.

Viele Menschen mit psychischen Erkrankungen nehmen Psychopharmaka. In der Forschung gibt es  Zweifel, ob der Effekt von Antidepressiv wirklich so groß ist.

© IMAGO//Dmitrii Marchenko

Viele Menschen mit psychischen Erkrankungen nehmen Psychopharmaka. In der Forschung gibt es Zweifel, ob der Effekt von Antidepressiv wirklich so groß ist.

Von Nina Ayerle

Als sie die Pillen das erste Mal verschrieben bekam, war Sarah 17 Jahre alt. Sie leidet an der Borderline-Störung und hatte mit starken Ängsten zu kämpfen. Sie bekommt ein Antidepressivum verschrieben. Anfangs habe es in einer sehr hohen Dosis ganz gut geholfen, wie die Stuttgarterin per E-Mail erzählt. „Aber sie haben mich völlig abgestumpft. Ich fühlte nichts mehr“, schreibt die 37-Jährige weiter.

Ärzte und Fachleute versicherten ihr stets, die Tabletten machten nicht abhängig. Als sie mit 25 Jahren schwanger wird, setzt sie ohne ärztliche Rücksprache das Medikament abrupt ab. Die ersten vier Monate der Schwangerschaft sei es ihr „sehr sehr schlecht“ gegangen. „Ich habe gespuckt ohne Ende, sieben Kilo abgenommen und psychisch ging es mir überhaupt nicht gut“, schildert sie ihre ersten Erfahrungen des Absetzens.

Ärzte raten ihr nach der Schwangerschaft zur Wiedereinnahme – angeblich ungefährlich beim Stillen. „Dazu gibt es ja heute andere Erkenntnisse“, schreibt Sarah. Sie habe sich sicherheitshalber entschieden, nicht zu stillen. Einen Tag nach der Geburt beginnt sie wieder mit dem Medikament. Ihre Gefühle seien wieder sehr gedämpft gewesen. „Ich wollte meiner Tochter das so nicht weiter vorleben, dieses „gefühllose“, wollte die Liebe zu ihr richtig spüren können und habe nach zwei Jahren entschieden, die Tabletten abzusetzen.“

Dieses Mal macht sie dies in Begleitung eines Psychiaters. Sie reduziert die Dosis bis auf 2,5 Milligramm herunter. „Da ging es mir noch ok“, schreibt sie. Als sie die Dosis auf null reduziert, setzen Übelkeit, Erbrechen, Schweißausbrüche, Hitzewallungen, Panikattacken, zwei Hörstürze und Schlafstörungen ein. Monatelang konnte sie ihre Gefühle nicht regulieren. Der Psychiater sagt ihr, dies habe nichts mit dem Absetzen zu tun. „Ernst genommen habe ich mich nicht gefühlt“, so Sarah.

Die Serotonin-Hypothese gilt längst als überholt

Die am häufigsten verordneten Wirkstoffgruppen bei Antidepressiva sind in Deutschland Selektive-Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI). Sie hemmen die Wiederaufnahme des Neurotransmitters Serotonin in die Präsynapse und erhöhen so dessen Konzentration im synaptischen Spalt. Seit den 1980ern gelten SSRI als „Goldstandard“ in der Depressionsbehandlung, das Mittel Prozac wurde lange als „Glückspille“ vermarktet. Laut dem Arzneiverordnungs-Report wurden im Jahr 2022 knapp 1,8 Milliarden Tagesdosen Antidepressiva in Deutschland verschrieben.

Die These, das allein ein Serotoninmangel Depressionen auslöst, gilt inzwischen als überholt. Heutzutage gehen die allermeisten Forscher davon aus, dass neben biologischen Faktoren, beispielsweise einer Imbalance des Serotoninstoffwechsels, Glutamat oder Noradrenalin, vor allem auch Faktoren wie Stress, Arbeits-, Wohn- und Lebensverhältnisse eine Rolle bei der Entstehung von Depressionen spielen.

Warum oder wie Antidepressiva wie SSRI aber nun genau wirken, ist bis heute unklar. Denn Antidepressiva wirken nicht nur auf das Serotonin-System, sie haben auch viele weitere Effekte auf unser Nervensystem, die man noch nicht versteht. Auch waren sie in größeren Meta-Analysen bei Menschen mit schweren Depressionen zwar einem Placebo überlegen. Vor allem aber dann, wenn Betroffene parallel eine Psychotherapie erhalten. In einer neueren, amerikanische Analyse von 2022 hatte ein Antidepressivum nur bei lediglich 15 Prozent der Probanden einen signifikanten Effekt gegenüber der Kontrollgruppe.

Oft werden die Mittel unnötig schnell verschrieben

Auch bei Absetzsymptomen und Nebenwirkungen ist nicht klar, warum manche sehr starke haben, manche gar keine. Skylar (40) bekam ein SSRI wegen Antriebslosigkeit. Später diagnostizierte ein anderer Arzt ADHS und eine Traumafolgestörung. „Im Nachhinein war das Antidepressivum unnötig“, sagt Skylar.

Aber es hat eine unangenehme Nebenwirkung beschert. „Meine Libido war dauerhaft so erhöht, das war nicht mehr normal“, erzählt Skylar. Manche hielten dies für etwas Positives, hätten es gar romantisiert. „Aber ich konnte mich auf der Arbeit keinen Funken konzentrieren.“ Kurz nach dem Ausschleichen sei das „unangenehme Gefühl“ der Dauererregung glücklicherweise wieder weg gewesen.

Absetz- und Nebenwirkungen plagen tausende Menschen, die Antidepressiva nehmen. Eine Theorie unter Forschern ist, die Mittel erhöhen die Menge an Serotonin im synaptischen Spalt. Das Gehirn reagiert auf diesen erhöhten Serotoninspiegel, indem es die Anzahl der Serotoninrezeptoren an den Synapsen herunterreguliert – es passt sich an die neuen Bedingungen an. Dies trifft insbesondere auf die Wirkstoffgruppe der SSRI sowie die der Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Inhibitoren (SNRI) zu.

Über Jahre nahmen Ärzte Patienten mit Problemen bei der Dosisreduzierung nicht ernst. Der australische Psychiater Mark Horowitz sagt in Interviews und sozialen Medien, er habe dies auch erst realisiert, als er selbst betroffen war. Nach zwölf Jahren Einnahme versuchte er ein SSRI abzusetzen, und zwar zügig.

Die Folge seien extreme Schlaflosigkeit, Schwindel, Konzentrationsschwierigkeiten, Herzrasen und Angstzustände, sodass er das Medikament wieder eingenommen habe. Es sei definitiv „die unangenehmste Erfahrung“ in seinem Leben gewesen. Davor habe er nie etwas über Entzugserscheinungen bei Antidepressiva gehört, weder im Medizinstudium noch in seiner Psychiatrieausbildung.

Heute erforscht er verträglichere Methoden des Absetzens. Viele Patienten müssen minimierte Dosen extrem langsam reduzieren („Tapering“), schrieb er in dem Fachmagazin The Lancet Psychiatry. Horowitz sagt, als es ihm schlecht ging, habe er kaum Hinweise auf heftige Absetzsymptome gefunden. Der Psychiater musste sich dann auch Unterstützung in Selbsthilfeforen von Laien holen. Lediglich Giovanni A. Fava, ein italienischer Psychiater und ehemalige Professor an der Universität Bologna, habe früh dazu geschrieben. Fava hat den umfangreichen Leitfaden „Antidepressiva absetzen“ für Fachpersonal publiziert. Laut dem italienischen Psychiater hat jeder zweite Patient starke Probleme mit dem Absetzen.

Deutsche Forscher kommen auf niedrigere Zahlen als Italienische

In einer Studie aus dem letzten Jahr ermittelten Forscher niedrigere Zahlen. Ein Team um Christopher Baethge des Instituts für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Köln und Tom Bschor von der Universität Dresden haben im vergangenen Jahr ebenfalls in The Lancet eine Meta-Analyse veröffentlicht. Demnach entwickelten nur 15 Prozent der Patienten nach dem Absetzen von Antidepressiva Symptome, bei 2,8 Prozent seien sie schwer. Besonders häufig zeigten sich diese Symptome nach der Einnahme von SSRI wie Venlafaxin. Bei diesem sei „besondere Vorsicht“ geboten. Die meisten Betroffenen können Antidepressiva ohne relevante Symptome absetzen, so die Forscher.

Doch viele Patienten machen andere Erfahrungen – wie Pia (27) aus Stuttgart. Am Anfang ihres Studiums habe sie „eine lange, depressive Phase“ gehabt. Sie weint viel, schläft schlecht, ist teilnahmslos, „wie hinter einem Milchglas“.

Viele Nebenwirkungen verschwinden nach dem Absetzen

Weil sie kurz darauf ins Auslandssemester will, macht ihre Mutter ihr einen Termin beim Psychiater, der ihr ein Antidepressivum verschreibt. Auf einer kleinen französischen Insel im Indischen Ozean angekommen, macht sie mehrmals die Woche Sport, geht viel wandern, hat kaum Uni. Nach einigen Wochen schläft sie besser, kann ihre Umwelt wieder wahrnehmen. Ob das am Medikament lag oder am Auslandssemester? „Ich weiß es nicht“, sagt sie . Aber sie hat einiges reflektiert: „In der Depression geht es vor allem um: Ich, Ich, Ich.“ Heute kann sie sich auch wieder auf ihr Umfeld konzentrieren – nicht nur auf sich selbst.

Als sie das Medikament irgendwann absetzt, stellt sie fest: Sie isst weniger, muss nicht ständig überall schlafen. „Auch meine Libido hat sich erholt“, sagt Pia und fügt hinzu: Selbst die depressivste Phase habe bei ihr keinerlei Auswirkungen auf ihr Sexualleben gehabt, das Medikament schon. Seitdem schläft sie unruhiger, wacht früh auf, hat „wieder so viele Gedanken“.

Die englische Psychiaterin Joanna Moncrieff („Chemically Imbalanced: The Making and Unmaking of the Serotonin Myth“) bezweifelt, dass Antidepressiva bei Depressionen wirklich so sinnvoll sind. Moncrieff ist Professorin am University College London und forscht viel zu diesem Thema. „Unsere Gesellschaft ist abhängig von diesen Mitteln“, sagt sie. Es klingt auch leicht: Eine Pille und das Stimmungstief ist vorbei, die psychische Krankheit weg. „Eine Therapie wiederum ist eine intensive und zeitaufwendige Sache, weil man sich mit den eigenen Problemen beschäftigen muss.“ Diese würde aber viele Menschen auf lange Sicht stärken.

Insgesamt hält sie den Nutzen von Antidepressiva für fraglich, der Effekt sei in Studien im Vergleich zu Placebos zu schwach. Für diesen Standpunkt wird sie von vielen Ärzten und Forschern teils heftig kritisiert, sagt sie. „Aber ich argumentiere auf Basis von randomisierten Kontrollstudien“, betont sie. Sie sei keine strikte Gegnerin, verschreibe sie, wenn Patienten diese wünschten. Davor müsse aber eine umfassende Aufklärung über mögliche Probleme beim Absetzen sowie Nebenwirkungen stattfinden. „Bei manchen treten später so schwere Absetzsymptome auf, dass sie nicht mehr arbeiten können.“

Das Gefühl, mit dem eigenen Gehirn stimmt etwas nicht, frustriert viele

Moncrieff hält es zudem für bedenklich, Menschen mit Depressionen zu vermitteln, es stimme „nur“ etwas in ihrem Gehirn nicht. Dies würde Patienten das Gefühl geben, sie müssten nun lebenslang Medikamente nehmen und hätten selbst keinen Einfluss auf ihre Krankheit. „Was für eine desillusionierende Idee.“ Viele Ärzte seien fokussiert darauf, dass Depressionen eine biologische Ursache hätten. „Sie realisieren dabei nicht, was sie ihren Patienten antun. Das ist so grausam“, so ihre Auffassung. „Und wenn Patienten es nicht schaffen, das Medikament loszuwerden, fühlen sie sich wie Versager“, ergänzt sie.

Viele sind froh, wenn sie irgendwann von den Medikamenten loskommen. Sarah sagt, sie sei stolz, dass sie trotz aller Probleme das Absetzen durchgezogen habe. Sie habe wieder richtig fühlen können. „Seitdem habe ich keine Psychopharmaka mehr angerührt“, schreibt sie. Und auch Pia merkt, es geht ihr heute auch ohne Medikamente gut. Sie habe manches in ihrem Leben grundlegend geändert. Geblieben sei leider nur eine Sache: „Die Unbeschwertheit kriege ich nicht mehr hin.“ Wichtig war ihr aber: Wer bin ich ohne das Medikament?

Hilfreiche Tipps beim Absetzen

FINISHWas kann auftauchen an Symptomen? In der englischsprachigen Fachwelt ist die FINISH-Regel verbreitet. Das sind grippeähnliche Beschwerden (Flu-like), Schlafstörungen (Insomnia), Übelkeit (Nausea), Gleichgewichtsstörungen (Imbalance), Missempfindungen (Sensory disturbances) sowie Reizbarkeit, Agitation und Ängstlichkeit (Hyperarousal). Bei SSRI/SNRIs kommen oft stromschlagähnliche Empfindungen in Armen, Beinen oder am Kopf („Brain Zaps“) vor.

Anleitung Laut dem „Royal College of Psychiatrists“, der englischen Psychiatrie-Gesellschaft, gibt es acht bis neun SSRI-/SNRI-Präparate, die mit einem „hohen Risiko“ beim Absetzen eingestuft werden. Auf der Website „Stopping antidepressants“ (https://www.rcpsych.ac.uk/mental-health/translations/german/stopping-antidepressants) gibt es eine deutsche Übersetzung mit ausführlichen Anleitungen für einzelnen Wirkstoffe aus der Gruppe der Antidepressiva. (nay)

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Erstellt:
19. Februar 2025, 10:38 Uhr

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