Appell zur Verhinderung von Femiziden
Der Stuttgarter Landgerichtspräsident Andreas Singer wünscht sich mehr Präventivarbeit von den Kommunen. Er erinnert an einen Mordfall in Backnang.

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Von Heike Rommel
Backnang/Stuttgart. Den Backnanger Fall der Ermordung einer Frau durch ihren Partner im Mai 2021 sowie zwei Morde in Sindelfingen und Ostfildern-Kemnat hat der Präsident des Landgerichts Stuttgart Andreas Singer beim Jahrespressegespräch zum Anlass genommen, um einen Appell an die Kommunen und alle Bürger zu richten: „Femizide müssen verhindert werden.“
„Wenn Frauen zu Tode kommen, dann geschieht das zu 39 Prozent durch den Partner“, so Singer. Er befürchtet eine weitere Zunahme dieser Gewalttaten vor dem Hintergrund häuslicher Gewalt.
Hass und Herrschaftsdenken gehören zu den Gründen
Die Motive bei Femiziden, an denen mittlerweile auch wissenschaftlich geforscht wird, seien immer dieselben und im Zusammenhang mit einer Trennung von Mann und Frau zu sehen: „Hass, Herrschafts- und Besitzdenken bis hin zu überkommenen Ehrvorstellungen“ seien Gründe, aus denen es zu Femiziden komme. Letzteres traf im Falle des 30-jährigen Backnangers zu, der – wie die beiden anderen Mörder – zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Er war mit dem Opfer nach islamischem Recht verheiratet und wohnte noch mit diesem zusammen, als er in einen Verbrauchermarkt fuhr, das Tatmesser kaufte und seine Partnerin damit zu Tode stach.
„Das passiert nicht irgendwo in Deutschland, sondern mitten unter uns, in der Region Stuttgart“, sagte Singer und forderte Kommunen, Beratungsstellen sowie alle Bürgerinnen und Bürger zur Mithilfe bei der Verhinderung von Femiziden und zum besseren Opferschutz auf.
Fehlender Wohnraum kann zum Problem werden
Wenn eine Frau in einer Trennungssituation wegen häuslicher Gewalt aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen müsse, stünde oft kein Wohnraum für sie zur Verfügung, wie der Fall Ostfildern-Kemnat gezeigt habe, wo der Täter das Opfer mit einem Revolver erschoss. In Sindelfingen habe die Frau zwar eine eigene Wohnung gehabt, doch als sie den Kontakt zu den gemeinsamen Kindern habe halten wollen, sei die neue Adresse herausgekommen und der Mann habe sie dort angetroffen und mit bloßen Händen erwürgt.
Häusliche Gewalt spielt sich oft im Dunklen ab
Nichts gehört, nichts gemerkt, nichts gesehen: So ungefähr äußerten sich die Nachbarinnen und Nachbarn bei der Zeugenvernehmung im Backnanger Mordfall. Die Nachbarschaft kannte das Opfer offenbar kaum. Häusliche Gewalt, berichtete Singer aus einem Gespräch mit dem nur für den operativen Opferschutz zuständigen Dezernat 71 am Polizeipräsidium Stuttgart, spiele sich oft im Dunkeln ab – deshalb sei die gesamtgesellschaftliche präventive Zusammenarbeit nötig. Auch die Ärzteschaft arbeite mit, wenn sie Gewaltspuren bei Patientinnen feststelle.
Bei Verdachtssituationen sollten auch Nachbarn grundsätzlich die Polizei rufen
Die Wissenschaft, so der Landgerichtspräsident weiter, arbeite bereits seit 1976 am Thema Femizide, bei denen Männer dem Leben von Frauen und Mädchen alleine aufgrund ihres Geschlechts ein Ende setzen, damit sie ohne den Mann kein selbstbestimmtes Leben führen können.
Von verharmlosenden Begriffen wie „Beziehungstat“ oder „Familienstreit“ könne bei Femiziden keine Rede sein, sagt der Landgerichtspräsident und rät gefährdeten Frauen und Mädchen, Hilfe zu suchen, auch unter der Telefonnummer 110. Die Polizei nehme das Thema nämlich sehr ernst. Auch Nachbarn, die das Gefühl haben, dass eine unmittelbare Gefahrensituation für Frau oder Kind besteht, sollten grundsätzlich die Polizei zu Hilfe rufen. Dabei gilt: Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig anrufen.
Hilfe für Betroffene Das bundesweites Hilfstelefon „Gewalt gegen Frauen“ erreicht man unter Telefon 08000/116016 (rund um die Uhr), das Frauenhaus Rems-Murr unter 07191/9308655, den Kreisdiakonieverband Rems-Murr unter 07151/95919129 (berät an fünf Stellen im Landkreis). Die Hilfsorganisation Weißer Ring hat Tipps unter https://weisser-ring.de/haeuslichegewalt.