Architekt des deutschen Rettungs- und Notfallwesens

Im Alter von 92 Jahren ist Siegfried Steiger gestorben. Nach dem Unfalltod seines Sohnes Björn revolutionierte er den Rettungsdienst.

Auch über die Landesgrenzen hinweg setzte sich der Winnender Siegfried Steiger für das Rettungswesen ein. Foto: Björn-Steiger-Stiftung

Auch über die Landesgrenzen hinweg setzte sich der Winnender Siegfried Steiger für das Rettungswesen ein. Foto: Björn-Steiger-Stiftung

Winnenden. Siegfried Steiger, Gründer der Björn-Steiger-Stiftung, ist gestorben. Nach einem erfüllten Leben schlief er am Donnerstagabend im Alter von 92 Jahren friedlich zu Hause im Kreise seiner Familie in Winnenden für immer ein. Siegfried Steiger wurde am 15. Dezember 1929 im heutigen Bad Brambach in Sachsen geboren. Nach Kriegsende begann er Ende der 1940erJahre zunächst eine handwerkliche Ausbildung, danach folgte ein Studium an der „Ingenieurschule für Bauwesen Chemnitz“, das er als Diplom-Ingenieur abschloss. 1950 lernte er seine spätere Frau Ute kennen. 1952 flohen beide aus der DDR in die Bundesrepublik. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Ab 1955 baute das Ehepaar ein Architekturbüro in Winnenden auf.

1969 änderte sich das Leben der Steigers schlagartig: Am 3. Mai 1969 verstarb ihr achtjähriger Sohn Björn nach einem Verkehrsunfall. Eine funktionierende Notfallhilfe gab es noch nicht, der Krankenwagen kam erst nach einer Stunde. Björn starb auf dem Weg ins Krankenhaus an einem Schock. Kurz darauf, am 7. Juli 1969, gründete das Ehepaar Steiger die Björn-Steiger-Stiftung mit dem Ziel, das damals unzulängliche Rettungswesen in Deutschland zu verbessern. Die Ersparnisse des Architekten reichten nicht, gemeinsam mit Freunden organisierte das Ehepaar deshalb eine bundesweite Altpapiersammlung. Gleich im ersten Jahr erbrachte diese Erlöse von 750000 Mark. „Das Leben ihres Sohnes konnte man nicht retten. Meine Eltern setzten daher alles daran, möglichst viele andere Leben zu retten“, sagt Pierre-Enric Steiger, der heutige Präsident der Stiftung.

Schritt für Schritt wurden Veränderungen auf den Weg gebracht – angefangen bei dem offenen 15-Punkte-Brandbrief, den die Steigers 1969 an alle deutschen Innenminister richteten, um einen funktionierenden und zeitgemäßen Rettungsdienst in der Bundesrepublik zu fordern. Bis 1970 gab es in Deutschland keine staatliche Zuständigkeit, Finanzierung oder Organisationsstruktur für den Rettungsdienst. All diese Grundlagen, die heute selbstverständlich sind, gehen auf Siegfried Steiger zurück.

Für den Fortbestand der Luftsicherung verpfändeten Steigers ihr Wohnhaus

Die Liste der durch ihn initiierten Veränderungen, Initiativen und Errungenschaften ist lang: Initiierung der bundesweiten Notrufnummern 110/112, Aufbau von Notruftelefonen an deutschen Straßen, 24-Stunden-Notarztsystem, BOS-Sprechfunkstandard im Rettungsdienst, Schaffung der Rettungsleitstellenstruktur, Aufbau der Luftrettung unter anderem mit der Gründung der heutigen DRF Luftrettung, Handyortung durch Rettungsleitstellen, die Entwicklung und Finanzierung des Babynotarztwagens sowie die Verbreitung von Laiendefibrillatoren gegen den Herztod und vieles mehr setzte das Ehepaar Steiger durch und machte damit die Stiftung zum Motor der modernen Notfallhilfe.

Im Jahr 1972, als das Projekt Luftrettung in Deutschland vor dem Aus stand, nachdem die Bundesregierung die staatliche Finanzierung für den Rettungshubschrauber Christoph 2 nicht erfüllen konnte, sprang die Björn-Steiger-Stiftung als Käufer ein. So wurde der Fortbestand der staatlichen Luftrettung gesichert. Zur Absicherung der Anschaffungskosten verpfändeten die Steigers sogar ihr Wohnhaus. Das Ehepaar Steiger gründete am 6. September 1972 die heutige DRF Luftrettung, als erste zivile Luftrettungsorganisation in Deutschland. Auch wurde er 1988 zum Mitgründer der Luxemburgischen Rettungsflugwacht (LAR) und gab 1990 die Starthilfe der Luftrettung in Ungarn und den Baltikumstaaten.

„Die Verbesserung der Notfallhilfe war für meinen Vater Mission und Grundmotivation seines Handelns“, betont sein Sohn Pierre-Enric Steiger. „Das in den 70er-Jahren vom Ehepaar Steiger in Baden-Württemberg initiierte ,Rettungsmodell Rems-Murr‘ – eine erstmals eigenständig erhobene, vollständige und wissenschaftliche Personal- und Materialberechnung für einen finanzierbaren Rettungsdienst inklusive des ersten strukturellen Aufbaus eines Rettungsdienstbezirks mit einer koordinierenden Leitstelle, die mehrere Rettungswachen mit Rettungswagen, Notarztwagen und einen Rettungshubschrauber in einem größeren Flächengebiet zentral führen konnte – wurde zum Muster für die bundesweite moderne Struktur der Notfallhilfe.“

In Anerkennung seiner Leistungen erhielt Siegfried Steiger diverse Auszeichnungen: 1978 erhielt er die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg, 1982 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse ausgezeichnet und 1991 erhielt er den höchsten Verdienstorden des Großherzogtums Luxemburg für Ausländer, im Rang eines Offiziers. Im Jahre 2005 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Medizinischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen für sein Lebenswerk zugesprochen. 2009 wurde das Ehepaar Steiger mit dem „EU-Outstanding Citizen Award“ für die erste flächendeckende Einführung der Notrufnummer 112 geehrt und 2018 zu Ehrenbürgern der Stadt Winnenden ernannt.

Im Jahr 2010 folgte Pierre-Enric Steiger seinem Vater als Präsident der Björn-Steiger-Stiftung nach. Auch heute hat sich die Björn-Steiger-Stiftung dem Ziel verschrieben, die Notfallhilfe voranzubringen. Hinzu kommen die noch durch Siegfried Steiger selbst mitinitiierten Projekte und Themen. Dazu gehören die Massenverbreitung von Laiendefibrillatoren, Schulungen in Wiederbelebung, Sensibilisierung von Kindern und Jugendlichen für den Notfall, sicherer Transport von Frühgeborenen, Notrufsäulen an Straßen, Stränden und Badeseen. pm

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Erstellt:
19. März 2022, 06:00 Uhr

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