Gaza-Konflikt
Auf die befreiten Hamas-Geiselnwartet ein neuer Schock
Die Terrororganisation Hamas hat am Samstag drei weitere Geiseln aus dem Gazastreifen frei gelassen. Zwei von ihnen wissen zu diesem Zeitpunkt nicht, dass ihre Angehörigen nicht mehr am Leben sind.
![Auf die befreiten Hamas-Geiselnwartet ein neuer Schock Menschenmassen begleiten die Freilassung der Geiseln.](/bilder/menschenmassen-begleiten-die-freilassung-der-geiseln-870373.jpg)
© dpa/Abdel Kareem Hana
Menschenmassen begleiten die Freilassung der Geiseln.
Von Mareike Enghusen
Kurz bevor die Hamas am Samstag drei weitere israelische Geiseln freiließ, zwangen die Terroristen die Entführten auf eine Bühne in Deir Al-Balah im Zentrum des Gazastreifens. Unter dem Jubel Hunderter Hamas-Anhänger fragte ein vermummter Hamas-Mann eine der Geiseln, den 52-jährigen Eli Sharabi, in arabisch gefärbtem Hebräisch: „Wie fühlst du dich?“ Sharabi, blass und abgemagert, antwortete: „Ich bin sehr, sehr glücklich, heute zu meiner Familie zurückzukehren, zu meinen Freunden, zu meiner Frau und meinen Töchtern.“
Was Sharabi da noch nicht wusste: Seine Frau Lianne und seine Töchter Noiya, 16, und Yahel, 13, wurden am 7. Oktober 2023 in ihrem Haus im Kibbutz Beeri von Hamas-Terroristen ermordet. Auch sein Bruder Yossi war entführt und später ermordet worden. Medien zufolge soll Sharabi nach seiner Ankunft in Israel sofort nach Frau und Töchtern gefragt haben. „Elis Zustand ist extrem schwierig“, zitierten israelische Medien ein ungenanntes Familienmitglied Sharabis.
Erschütternde Nachricht
Auch auf den am Samstag befreiten Or Levy, 34, wartete eine erschütternde Nachricht: Seine Frau Eynav, die Mutter seines dreijährigen Sohnes, war ebenfalls bei dem Hamas-Überfall ermordet worden. Or Levy sei „in einem Tunnel ohne Kommunikation festgehalten worden“, sagte Levys Mutter Geula dem israelischen Armeeradiosender, „und er konnte nur vermuten, dass seine Frau Eynav ermordet worden war. Heute hat er gefragt, und wir haben ihm die Wahrheit gesagt.“
Alle drei am Samstag freigelassenen Geiseln, neben Levy und Sharabi der 56-jährige Deutsch-Israeli Ohad Ben Ami, leiden dem israelischen Gesundheitsministerium zufolge unter „schwerer Unterernährung“. Laut Or Levys Mutter spürte ihr Sohn in Gaza nicht, ob „Sommer oder Winter war“. Das passt zu den Berichten anderer, die in den vergangenen Wochen freikamen. „Ofer hat 484 Tage kein Tageslicht gesehen, keine saubere Luft geatmet“, so Nissan Kalderon, Bruder des kürzlich befreiten Ofer Kalderon. „Ofers Geschichten sind schockierend, es ist schwer, von seinen Erfahrungen zu hören.“
Noch schwerer als die körperlichen Leiden dürften die seelischen Verletzungen wiegen. „Wir wissen, dass die Geiseln Demütigungen und Folter ausgesetzt waren“, sagte die auf Traumata spezialisierte Psychologin Vered Atzmon-Meshulam unserer Zeitung. Sie leitet das Resilienzzentrum der Nichtregierungsorganisation ZAKA, die nach Anschlägen und Unfällen erste Hilfe leistet. „Einigen Geiseln wurde auch sexuelle Gewalt angetan. All das sind Taktiken, die darauf abzielen, Menschen mental zu brechen.“ Die Rückkehrer hätten ein hohes Risiko, posttraumatische Störungen zu entwickeln, sofern dies nicht schon geschehen sei. Weitere mögliche Langzeitfolgen seien Angst- und Panikattacken, Flashbacks, Essstörungen und die Schwierigkeit, Gefühle wie Fröhlichkeit und Trauer zu spüren.
Traumata müssen geheilt werden
Atzmon-Meshulam ist jedoch zuversichtlich, dass sich die langfristigen Symptome des Traumas zumindest abmildern lassen. „Wir wissen aus der Erfahrung des Holocausts, dass Menschen extreme Situationen durchleben und trotzdem heilen können“, sagt sie. Für jede befreite Geisel bereite das israelische Gesundheitssystem einen individuellen Plan vor, um sie bei der körperlichen und seelischen Heilung zu unterstützen. „Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den Geiseln“, sagt Atzmon-Meshulam. „Diejenigen, die wie Eli Sharabi ihre Liebsten verloren haben, werden einen sehr viel komplizierteren Heilungsprozess durchlaufen, der sich vor allem auf Trauerbewältigung konzentrieren wird. Das ist ein Prozess, der sie ein ganzes Leben lang begleiten wird. “
Ungeachtet der Wut über die Inszenierung der Freilassung weiterer Geiseln durch die Hamas hat sich die israelische Armee am Sonntag wie vereinbart aus dem Netzarim-Korridor zurückgezogen, einem strategisch wichtigen Teil des Gazastreifens. Zudem entließ Israel 183 palästinensische Häftlinge aus seinen Gefängnissen.