SEK-Einsatz in Reutlingen

Auf Krieg vorbereitet

Im Verfahren um den „militärischen Arm“ der mutmaßlichen Terrorgruppe um Prinz Reuß nähert sich vor dem Oberlandesgericht Stuttgart der erste Teil dem Ende: die Beweisaufnahme zu Schüssen auf SEK-Beamte in Reutlingen im März 2023.

Polizisten des Spezialeinsatzkommandos machen sich für den Zugriff bei einen Einsatz in Boxberg-Bobstadt 2023 ihr gepanzertes Transportfahrzeug.

© StN/Franz Feyder

Polizisten des Spezialeinsatzkommandos machen sich für den Zugriff bei einen Einsatz in Boxberg-Bobstadt 2023 ihr gepanzertes Transportfahrzeug.

Von Franz Feyder

Um 6.04 Uhr und 15 Sekunden ist der Krieg da. Auf den hat sich Markus L. lange und penibel vorbereitet: Über den drehbaren, bordeauxroten TV-Sessel im Wohnzimmer hat er eine grüne, schusssichere Weste gehängt. Das Konstrukt vor die leeren Pizzakartons, Flaschen und Chipstüten gerückt, die den Boden und den kleinen Tisch vor dem Sofa bedecken: Der Raum zur Zimmertür und in deren Verlängerung zum Wohnungseingang ist gedeckt. L. nimmt ein Gewehr und verschanzt sich hinter dem Panzersessel, er macht den Eingang zu seiner Dachgeschosswohnung in der Reutlinger Peter-Rosegger-Straße zur unüberwindbaren Todeszone.

In diese Zone müssen Polizisten des Spezialeinsatzkommandos (SEK) Baden-Württemberg am 22. März 2023 rein. Sie sollen an diesem Mittwochmorgen eine „statische Lage“ in L.s Wohnung herstellen. Also das „ganze Objekt gesehen, Gefahren ausgeschaltet und alle sich darin befindlichen Personen unter Kontrolle haben“, erklärt einer von ihnen diese Woche den Richtern des 3. Strafsenats.

Verrätern drohte der Tod

Die sollen am Oberlandesgericht Stuttgart darüber entscheiden, ob der 48 Jahre alte Industriemechaniker L. versuchte, zwei Polizisten zu ermorden. Ob er – zusammen mit acht weiteren Angeklagten – als „militärischer Arm“ einer Truppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß – eine Rechtsterrorgruppe bildete, die plante, das bestehende politische System Deutschlands gewaltsam zu beseitigen. So sagt es der Generalbundesanwalt.

L. war vier Monate zuvor ins Visier der Ermittler des Bundeskriminalamtes (BKA) geraten, nachdem diese am 7. Dezember 2022 medienwirksam 150 Häuser, Garagen und Büros in Deutschland durchsuchten, 25 Verdächtige festnahmen. Dabei fanden die Kriminalen auch eine Verschwiegenheitserklärung. Mit der sollen sich ihre Unterzeichner verpflichtet haben, über die Umsturzpläne zu schweigen. Andernfalls würden sie hart bestraft – auch mit dem Tod. L. soll das unterschrieben haben.

Seit dem Jahreswechsel 2022/2023 recherchierten BKA-Mitarbeiter offen, aber unbeholfen im Internet zu L.: Mitglied des Schützenvereins Bad Urach sei er, in Chatgruppen wie „Anons_Deutschland“, „DasPatriotenNetzwerk“ und „Freiheitsbotenrt“ sei er unterwegs gewesen. Eine magere Ausbeute angesichts der schweren Vorwürfe, die der Generalbundesanwalt im Zusammenhang mit Reuß erhebt. Zumal mit einer professionellen, für jedermann möglichen Internetrecherche, der sogenannten OSINT, deutlich mehr im Netz über L. zu erfahren gewesen wäre.

Um 6.04 Uhr wird die Wohnungstür gesprengt

Die Razzia in Reutlingen, hielt ein Richter des Bundesgerichtshofes ausdrücklich im Durchsuchungsbeschluss fest, gelte einer „tatunverdächtigen Person“. L. habe die Möglichkeit, die Durchsuchung dadurch abzuwenden, „indem er die gesuchten Gegenstände freiwillig und vollständig herausgibt“. Für die Polizei kann die Razzia zu einer gefährlichen Mission werden: Auf den Sportschützen L. hat die Waffenbehörde der Stadt Reutlingen alleine 22 Waffen und 15 Waffenteile offiziell registriert. Zudem eine Berechtigung zum Umgang mit Sprengstoffen.

L. den Durchsuchungsbeschluss des Richters zu eröffnen, ist Aufgabe des für das Objekt verantwortlichen BKA-Ermittlers. Ihn gefahrlos zu L. zu bringen ist die Aufgabe der SEKler. Die sprengen um 6.04 Uhr das Schloss aus der Wohnungstür L.s. Noch wirbelt Staub durch das Treppenhaus, hallt der Explosionsknall nach, ruft einer der Beamten: „Polizei! Markus L., komm‘ heraus und zeig‘ die Hände!“ Sie werden diesen Ruf ungezählte Male wiederholen.

Langsam tasten sich vier Polizisten die Treppe hoch. Die beiden vorderen mit Schutzschilden, hinter ihnen zwei weitere. Ein Dutzend mehr warten im unteren Treppenhaus. Vor der nur einen Spalt offenen Wohnungstür verharrt das Quartett: Zwei Aufklärungsdrohnen heben nicht mehr vom Boden ab, offensichtlich durch die Luftverwirbelungen nach der Sprengung beschädigt. Damit bekommt der ursprüngliche Plan für den Einsatz Risse. Eigentlich sollte mit den kleinen Robotern zunächst die Wohnung erkundet werden. Denn: Was wo hinter der Eingangstür ist, wissen die Polizisten nicht.

Zugriff ohne den Grundriss zu kennen

Das verwundert. Weltweit dringen Spezialeinheiten nur dann in Wohnungen und Häuser ohne deren Grundriss zu kennen ein, wenn sie in einem sogenannten Notzugriff das Leben von Geiseln retten. Bei geplanten Einsätzen wie diesem können sie sich in dem Objekt im Schlaf orientieren, wissen, zu welcher Seite Türen aufgehen, welches Zimmer dahinter ist.

Er habe, sagt der Leiter dieses Einsatzes aus, vorgeschlagen, L. auf dem Weg zur Arbeit risikoärmer zu überwältigen. Das verbot das BKA. Der als erstes vorgehende Beamte mit der Tarnbezeichnung 6 sagt, er habe nach dem Eindringen in die Wohnung „vor der Tür gestanden, von der sich später herausstellte, dass dahinter das Wohnzimmer war“.

Warum die Polizisten den Grundriss der Wohnung nicht kannten, fragt sie keiner der Verteidiger. Dabei war schon nach der Razzia im Dezember 2022 Kritik laut geworden, dass das BKA den später eindringenden Spezialkräften verbot, die ihnen zugewiesenen Objekte vorher ausreichend aufzuklären. Die Gründe dafür sind bis heute unbekannt.

„Zieht Euch zurück oder ich schieße!“

Der SEK-Einsatzleiter entscheidet sich, „defensiv vorzugehen“. Zehn Monate zuvor hatte im Norden Württembergs in Boxberg-Bobstadt während einer Razzia ein so genannter Reichsbürger einen SEK-Polizisten niedergeschossen, ihn schwer verletzt. In Reutlingen dauert es zwei Minuten und 44 Sekunden nach der Sprengung, bis 6 die Wohnung L.s betritt, das Schloss hinter der Wohnungstür mit dem Fuß so forträumt, dass sie offen bleibt.

6 steht jetzt im kleinen Flur: links ein Schuhschrank, halb rechts vor ihm eine geschlossene Tür. Er steht am linken Türrahmen, hebt seinen Schild, drückt die Klinke runter, die Tür schwingt nach links. „Ich sah den Sessel mit der Schussweste drüber, dahinter schemenhaft eine Bewegung. Ich habe ‚Hey, zeig Dich‘ gerufen“, schildert er den Richtern.

Halb rechts hinter ihm auf der Treppe, hat 11 den besseren Einblick in das Halbdunkel des Zimmers. Die Tür federt immer wieder zurück, 6 stößt sie immer wieder mit dem Fuß auf. Um 6.07 Uhr und 41 Sekunden ruft 11: „Leg die Waffe weg!“ „Hat der ‘ne Waffe, oder was?“, fragt 6 seinen Kameraden. L. droht ruhig: „Zieht Euch zurück oder ich schieße!“ „Mich hat in diesem Stress gewundert, wie ruhig der war“, schildert 6 den Richtern.

Ab 6.08 Uhr und 43 Sekunden wird geschossen

Ob er da nicht hätte einfach zurückgehen, die Wohnung verlassen können, will Verteidigerin Buket Yildiz-Özdemir wissen. Nein, sagt der SEK-Mann, denn dazu hätte er durch „diesen gefährlichen Bereich“ gemusst. Aber ihr Mandant habe doch „oder ich schieße“ gesagt. Er habe doch gar geschossen, sondern eine Alternative angeboten. „Da muss man darauf vertrauen, dass er das auch nicht macht“, antwortet 6.

11 erkennt ein Maschinengewehr vorne im Wohnzimmertür. Eine unbrauchbar gemachte Waffe, wie sich erst Tage nach dem Einsatz herausstellt. Der Polizist ruft: „Markus, leg’ die Waffe weg, lass‘ den Scheiß!“ L.: „Zurückziehen oder ich schieße!“ 6: „Lass‘ den Scheiß, leg das Ding hin. Polizei. Leg das Scheiß Ding hin.“ 4 Minuten und 28 Sekunden nach der Sprengung feuert 11 auf L., weil er gesehen habe, dass der eine Waffe in Anschlag bringe. L. schießt mit einem AR-15-Sturmgewehr zurück, trifft den Schild des Beamten Nummer 6: „Als würde jemand moderat mit dem Zimmermannshammer darauf schlagen.“

Insgesamt wird 26 Mal geschossen, die Polizisten 16, zehn Mal L.. Um 6.08 Uhr und 57 Sekunden schreit 6 auf: „Ich hab ‘nen Treffer! Ich bin getroffen.“ Seine Glock-17-Pistole fällt zu Boden. „Mein Arm hing wie leblos runter.“ Die Schießerei bricht ab.

Verletzt muss der Beamte 6 durch die Todeszone

Um die Wohnung zu verlassen, muss 6 durch die Todeszone. Langsam zieht er sich rückwärts zurück. Im Treppenhaus stöhnt er: „Ey, mein Arm ist komplett am Arsch.“ Eine totale Zerstörung des oberen Endes beider Unterarmknochen diagnostizieren Chirurgen bei der Not-OP. Er habe jetzt Probleme, mit angewinkeltem Arm auch nur ein volles Wasserglas zu heben, schildert 6: „Für den operativen Polizeidienst bin ich nicht mehr geeignet.“

Eine direkte Lebensgefahr habe zwar nicht bestanden, bilanziert die Gutachterin. Aber eine potenzielle: Maximal zwei Zentimeter entfernt verlaufe die Oberarmarterie, nur wenig weiter seien Brustkorb und Bauch. Dort wäre es schwierig geworden unter diesen Bedingungen eine massive Blutung zu stoppen. Von „großem Glück“ spricht die Ärztin.

Er wisse nicht, was weiter mit ihm in der Polizei geschehe, sagt 6. Ein unhaltbarer Zustand für den FDP-Innenexperten Nico Weinmann: „Es ist eine Frage der Wertschätzung und elementarer Teil der Fürsorgepflicht des Dienstherrn, dass Innenminister Thomas Strobl dem verletzten Beamten die bestmögliche Heilbehandlung zuteilwerden lässt und Klarheit schafft.“

Die Verteidiger argumentieren, ihr Mandant habe in Notwehr gehandelt

Die Aussage des angeschossenen Polizisten 6 verfolgt L. regungslos. In der Ecke seiner Bank gedrückt, den rechten Ellbogen aufgestützt auf die weiße Lehne. Sein Daumen streicht über den Zeigefinger. Im März 2023 dauerte es in Reutlingen mehr als eine halbe Stunde, bis er nach dem vorläufigen Rückzug des SEK-Teams in die nächste Etage aufgab und sich im Treppenhaus festnehmen ließ.

Die Strategie, mit der die Anwältin Buket Yildiz-Özdemir und ihr Kollege Holger Böltz ihren Mandanten verteidigen: Penibel fragen sie die SEKler, ob sie L. informiert hätten, dass er die gesuchten Sachen freiwillig herausgeben und so die Durchsuchung vermeiden könne. Ob sie das überhaupt wussten. Die Juristen wollen nachweisen, dass L. in Notwehr handelte. Sich also nur so verteidigte, wie es erforderlich war, um einen rechtswidrigen Angriff abzuwehren. Die beiden wollen den Eindruck erwecken, ihr Mandant hätte möglicherweise ganz anders reagiert. Quasi die komplexe juristische Fragestellung über die Rechtmäßigkeit der Durchsuchung hinter geladenem Sturmgewehr, gepanzertem TV-Sessel und Müll abgewogen, um dann mit der Polizei zu kooperieren.

Den Krieg vorbereiten

Die hätte ja auch nur an der Haustüre klingeln brauchen. Diese Strategie verkennt, dass L. schussbereite Pistolen unter dem Kopfkissen, auf dem Sofa und im Auto hatte, ein weiteres Gewehr schussbereit neben dem Staubsauger bereithielt. Außer zahlreichen legal erworbenen Waffen auch etliche mutmaßlich illegale besaß.

„Si vis pacem para bellum“, hat sich L. auf den linken Unterarm tätowieren lassen. „Wenn Du Frieden willst, bereite den Krieg vor.“ Der römische Kriegstheoretiker Flavius Vegetius hat im 4. Jahrhundert diesen widersinnigen Satz in das Vorwort seines dritten Buches über die „Dinge des Krieges“ geschrieben. Heute eine Art Kalenderspruch. Ein Widerspruch, ein Paradoxen: Die Geschichte ist bis heute in der Ukraine und in Israel voll von Kriegen, die nur entstanden, weil einer sich für den Krieg vorbereitet sah, seinen Feind jedoch nicht. Als um 22. März 2023 um 6.04 Uhr die Polizei zu L. kam, war der nicht auf Frieden vorbereitet.

Zum Artikel

Erstellt:
12. Juli 2024, 15:36 Uhr
Aktualisiert:
13. Juli 2024, 13:33 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen