Aufgewacht in „schrecklichem Horror“

Immer mehr Ukrainerinnen und Ukrainer fliehen vor dem Krieg nach Deutschland. Auch in der Region sind einige Geflüchtete angekommen. Drei Familien berichten vom Beginn des Kriegs, dem Schutzsuchen in Kellern und ihrer Flucht nach Murrhardt.

Drei Familien aus der Nähe der ukrainischen Stadt Charkiw sind in Murrhardt bei Freunden untergekommen. Von links: Aleksantra Nikolaievyeh, Olena Butova mit ihren Töchtern Polina und Kira sowie ihrem Mann Dmytro. Katy Mozgova ist mit ihrer Mutter Toma und zwei Töchtern (nicht auf dem Bild) sowie zwei Hunden angekommen. Foto: T. Sellmaier

© Tobias Sellmaier

Drei Familien aus der Nähe der ukrainischen Stadt Charkiw sind in Murrhardt bei Freunden untergekommen. Von links: Aleksantra Nikolaievyeh, Olena Butova mit ihren Töchtern Polina und Kira sowie ihrem Mann Dmytro. Katy Mozgova ist mit ihrer Mutter Toma und zwei Töchtern (nicht auf dem Bild) sowie zwei Hunden angekommen. Foto: T. Sellmaier

Von Kristin Doberer

Murrhardt. Im Rems-Murr-Kreis sind bisher offiziell rund 200 ukrainische Geflüchtete untergekommen, viele von ihnen in privaten Unterkünften. So auch drei Familien aus der Kleinstadt Cheguev, ganz in der Nähe der ostukrainischen Stadt Charkiw, die seit Beginn des Angriffskriegs fast durchgehend beschossen wird. Der Militärflughafen in Chuguev war wohl eines der ersten Ziele der russischen Armee. „Alle haben geschlafen, bis uns die Bomben um 5 Uhr morgens geweckt haben“, erzählt Olena Butova auf Englisch und zeigt ein Video von Explosionen am nicht weit entfernten Flughafen auf ihrem Handy. „Aufgewacht sind wir dann in diesem schrecklichen Horror. Von da wurde es nur immer schlimmer und schlimmer.“ Sie wischt über ihr Handy, zeigt ein Bild der Zerstörung nach dem anderen: die Schule an der ihre Tochter Polina Deutschkurse besucht hat, eine eingestürzte Autobahnbrücke, das Bild einer blonden Frau mit blutverschmiertem Gesicht und Bandage, das in den ersten Tagen des Kriegs um die Welt gegangen ist. „Sie kommt aus unserer Stadt, ist eine Nachbarin meiner Mutter“, sagt Katy Mozgova. Von dem Wohnhaus sei nur noch wenig übrig, alles zerstört. Acht Tage saß Katy Mozgova mit ihrer Familie im Keller. Als die Situation immer schlimmer und die Versorgung knapper wurde, fuhr sie mit ihrer Mutter und zwei Töchtern nach Charkiw und von dort in einem völlig überfüllten Zug weiter nach Lwiw (Lemberg). Freunde brachten sie dann an die Grenze, wo Thomas Schneider, Vorstand der Reservistenkameradschaft Murrhardt, die Familie abholte. Ihr Mann, der für das Militär arbeitet, und ihr 19-jähriger Sohn sind noch in der Ukraine.

Dass sie nach Murrhardt kommen wollten, war für die Familie schnell klar, Katy Mozgov und ihr Mann sind über die Reservistenkameradschaft schon lange mit Schneider befreundet. Schon zweimal hat sie vor Kriegsbeginn Murrhardt besucht, und auch Schneider war schon mehrmals mit weiteren Murrhardtern in der Ukraine – in Tschernobyl, auf der Krim und eben in Chuguev. „Uns war klar, dass wir helfen müssen. Das sind Freunde“, sagt Thomas Schneider. An der Grenze sei die Situation schrecklich gewesen. Zu Fuß seien so viele Frauen mit einer kleinen Tasche in der einen Hand und mit Kindern an der anderen Hand über die Grenze gekommen. Auch in den Bussen, die Menschen abgeholt haben, seien unfassbar viele Kinder gewesen.

Nach zwölf Tagen im Keller war für die Familie klar: „Wir müssen weg“

„Wir mussten weg, um die Kinder zu retten“, sagt auch Olena Butova, eine Freundin von Katy Mozgov. Zwölf Tage saß sie mit ihrer Familie im Keller ihrer Wohnung in Cheguev, die Töchter haben versucht in der Sauna zu schlafen, da in dem Bereich die Wände am stärksten waren. „Als wir dann Panzer gesehen haben und immer wieder Raketen über unsere Köpfe geflogen sind, war klar, dass wir gehen müssen“, erzählt Olena Butova. Vater Dmytro Butov durfte mit ausreisen, obwohl er früher als Pilot beim ukrainischen Militär war, da die jüngste Tochter Kira aufgrund einer Behinderung nicht laufen kann. Eine Zugfahrt sei mit ihr angesichts der überfüllten Bahnhöfe nicht möglich gewesen, stattdessen haben sie sich ein Auto geliehen und sind damit bis nach Murrhardt gefahren. Fünf Tage lang waren sie unterwegs, mitgenommen haben sie nur wenige Kleider und wichtige Dokumente. Viele Menschen seien aber noch immer in der Stadt, weiß die Ukrainerin. Bekannte aus der Wohnung über ihnen leben nun in der Wohnung der Butovs, weil „sie von da schneller in den Keller können“. Hin und wieder hat sie noch Kontakt, der Keller sei nun voll mit weiteren Menschen, von denen sie viele gar nicht kennt. „Wir haben Kleidung und Essen für sie zurückgelassen. Wir müssen uns nun gegenseitig helfen“, sagt die Ukrainerin.

Hier hat Polina Butava bis vor Kurzem noch Deutschkurse besucht. Nur eines von vielen zerstörten Häusern in der Region, die mit militärischen Zielen nichts zu tun haben. Foto: privat

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Hier hat Polina Butava bis vor Kurzem noch Deutschkurse besucht. Nur eines von vielen zerstörten Häusern in der Region, die mit militärischen Zielen nichts zu tun haben. Foto: privat

Und selbst als sie aus der Ukraine raus waren, saß der Schock noch tief – vor allem bei den Kindern. „Bei jedem Flugzeuggeräusch haben sich die Kinder erschreckt, wollten instinktiv in einem Keller Schutz suchen.“ Obwohl Olena Butova Thomas Schneider vor ihrer Flucht nicht kannte, hat er auch ihr eine Unterkunft in Murrhardt besorgt. Er hat eine Ferienwohnung angemietet, in einem nahe gelegenen Seniorenheim konnten sie ein Zimmer belegen und auch bei weiteren Mitgliedern aus dem Reservistenverein sind zwei Ukrainerinnen untergekommen. „Wir sind den Murrhardtern und Deutschland so dankbar. Sie haben uns aufgenommen und unterstützen uns“, sagt Olena Butova. Von der Hilfsbereitschaft ist auch Thomas Schneider positiv überrascht. Viele Bekannte wollten helfen, haben Möbel und Kleidung geschenkt und es wurde bereits eine Wohnung organisiert, sagt er.

Wie es für die Familien weitergeht, wissen sie selbst noch nicht. „Schritt für Schritt“, meint Katy Mozgova. Vorerst werden sie wohl in Murrhardt bleiben, bei der Stadt sind sie bereis gemeldet. Sie alle hoffen jeden Tag, dass sie morgens aufwachen, die Nachricht vom Ende des Kriegs hören und sie wieder zurück in ihre Heimatstadt können. „Wir wollen unserem Land helfen, es gibt viel zu tun und so viel wieder aufzubauen“, sagt Olena Butova. Aber selbst dem Ende des Kriegs sehen sie mit Unsicherheit entgegen, die Nähe zur russischen Grenze sei beunruhigend und die Angst, dass die Lage sich dort nie richtig stabilisiert, sei groß. „Und wir wollen nicht mit russischen Regeln leben“, betont Katy Mozgova.

Die Kommunikation mit russischen Verwandten ist schwer

Für sie ist auch ganz klar: Sie will nie mehr nach Russland, obwohl ihr Bruder in Moskau lebt. „Er versteht gar nicht, was in der Ukraine passiert“, erzählt die 45-Jährige. „Er hat vorgeschlagen, dass wir zu ihm nach Russland kommen. Ich habe nur gesagt: ‚Aber ihr seid doch die Aggressoren, ihr seid der Feind.‘“ Auch Olena Butova bestätigt, wie schwer die Kommunikation mit russischen Verwandten gerade ist. Zum einen realisieren diese das Geschehen nicht, das Vertrauen in die russische Propaganda sei zu groß. Zum anderen trauen sich viele auch nicht, mit Ukrainern zu sprechen oder zu schreiben aus Angst vor russischen Geheimdiensten, berichtet Butova.

Dass es jemals so weit kommen konnte, verstehen die Frauen auch jetzt noch nicht, gerade auch weil ihre Heimatstadt so nahe an der russischen Grenze liegt. „Wir hatten nie Probleme mit anderen“, sagt Katy Mozgova. „Wir hatten eine gute Regierung, gute Wohnungen, gute Jobs.“ Sie ist Zahnärztin, Olena Butova arbeitete im Rathaus, ihr Mann war Bauunternehmer. Die 19-jährige Aleksantra Nikolaievyeh hat Sport studiert und die beiden jüngeren Mädchen besuchen noch die Schule. „Und wir hatten eine Wahl“, fügt die 16-jährige Polina Butova noch hinzu. All das habe man ihnen genommen. „Und jetzt müssen wir durch halb Europa flüchten, nur um das Leben unserer Kinder zu retten“, sagt ihre Mutter. In den kommenden Tagen erwartet Thomas Schneider noch weitere Bekannte, die aus der Ukraine flüchten. „Zu einer Familie haben wir aber seit Tagen keinen Kontakt mehr“, erzählt er bedrückt.

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Erstellt:
21. März 2022, 06:00 Uhr

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