Ständige Impfkommission warnt
Bedrohliche Lücken bei Polio-Impfung in Deutschland
Polio, auch Kinderlähmung genannt, gilt als nahezu ausgerottet. Doch viele kleine Kinder in Deutschland sind nicht ausreichend geschützt. Fachleute haben einen dringenden Rat.
Von Markus Brauer/dpa
Der Polio-Impfschutz ist bei vielen kleinen Kindern in Deutschland schlecht. „Obwohl die Grundimmunisierung bis zu einem Alter von zwölf Monaten abgeschlossen sein sollte, sind im Alter von zwölf Monaten nur 21 Prozent der Kinder vollständig geimpft“, teilte die Ständige Impfkommission (Stiko) mit. Jüngst waren Polioviren im Abwasser mehrerer großer deutscher Städte entdeckt worden.
Versäumte Impfungen werden zwar oft nachgeholt, trotzdem haben den Fachleuten zufolge nur 77 Prozent der Kinder in einem Alter von zwei Jahren einen vollständigen Impfschutz. Im Einschulungsalter von sechs Jahren hätten 88 Prozent den vollständigen Schutz. Ziel sei eine Impfquote von mindestens 95 Prozent bis zum Ende des ersten Lebensjahres.
Versäumte Impfung „schnellstmöglich nachholen“
Im Abwasser aus Klärwerken in München, Bonn, Köln, Hamburg, Dresden, Düsseldorf und Mainz sind im Oktober und November Polioviren nachgewiesen worden.
Bei den gefundenen Erregern handelt es sich nicht um den Wildtyp des Poliovirus, sondern um eine auf Schluckimpfungen zurückgehende Variante. Experten zufolge ist sie wahrscheinlich nicht harmloser als der Wildtyp.
Abgeschwächte Polioviren mutierten recht schnell wieder zum virulenten Typ, erläutert Sabine Diedrich, Leiterin des Nationalen Referenzzentrums für Poliomyelitis und Enteroviren. „Viren, die einige Tage nach Verabreichung der Schluckimpfung ausgeschieden werden, können bei engen Kontaktpersonen bereits Lähmungen verursachen.“
Angesichts der aktuellen Impfquoten und der vom Schluckimpfstoff abgeleiteten Polioviren besteht laut RKI die Möglichkeit, dass in Deutschland Infektionsketten in der Bevölkerung nachgewiesen werden und auch wieder Menschen an Polio erkranken.
Stiko: Versäumte Impfungen schnellstmöglich nachholen
Die Stiko empfiehlt daher: „In der aktuellen Situation ist es wichtig, den Impfstatus von Kindern als besonders vulnerable Gruppe für Poliomyelitis zu überprüfen und versäumte Impfungen schnellstmöglich nachzuholen.“
Wie gefährlich ist Polio?
Der Erreger ist hochansteckend und wird über Schmierinfektionen, verunreinigtes Wasser oder Lebensmittel übertragen. Erste Symptome sind Fieber, Müdigkeit, Kopfschmerzen, Erbrechen, Nackensteifigkeit und Gliederschmerzen.
Eine von 200 Infektionen führt dem RKI zufolge bei fehlendem Immunschutz zu irreversiblen Lähmungen, meist in den Beinen. Von den Betroffenen sterben fünf bis zehn Prozent, weil ihre Atemmuskulatur gelähmt wird. Eine Heilung von Polio ist nach wie vor nicht möglich.
Gab es Polio auch in Deutschland?
Nur ältere Menschen können sich noch daran erinnern, wie furchtbar die auch Kinderlähmung genannte Viruskrankheit hierzulande einst zuschlug – mit tausenden Erkrankten und hunderten Todesfällen jährlich. Es sei „eine der schrecklichsten Erkrankungen der Menschheit“, berichtet Christian Drosten, Direktor des Instituts für Virologie der Charité Berlin.
Nach Angaben der europäischen Gesundheitsbehörde ECDC war Polio eine der Hauptursachen für Todesfälle, akute Lähmungen und lebenslange Behinderungen – bis die Impfungen starteten. Die letzte in Deutschland erworbene Poliomyelitis-Erkrankung durch Wildviren wurde 1990 erfasst.
Woher stammt die gefundene Variante?
Die auch in Polen und Spanien nachgewiesene, cVDPV2 genannte Variante stammt nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ursprünglich aus Nigeria, wo sie seit etwa 2020 kursiert. Seither hat sie sich auf andere Regionen vorwiegend in Afrika ausgebreitet, wie Sabine Diedrich mitteilt. Sie wurde auch nach Europa eingeschleppt, wie nun klar ist.
Polioviren vermehren sich nicht eigenständig in Abwasser. An den Fundorten müsse es Menschen geben, die cVDPV2 ausscheiden und an andere Personen weitergeben könnten, erklärt Drosten. Auch Geimpfte können sich demnach anstecken, entwickeln aber keine Symptome. „Gefährdet sind Ungeimpfte und Personen mit schwerem Immundefekt.“
Der Name Kinderlähmung führt dabei in die Irre: Menschen jeden Alters ohne Immunschutz können erkranken. Der Name entstand, weil der Erreger einst so verbreitet war, dass die Infektion meist schon im Kindesalter erfolgte. Lähmungen sind bei sehr kleinen Kindern viel seltener als bei älteren Kindern und Erwachsenen.
Wie wird in Deutschland geimpft?
Die Empfehlung der Ständigen Impfkommission (Stiko) sieht eine Grundimmunisierung mit drei Impfstoffdosen im Alter von 2, 4 und 11 Monaten vor. Eine einmalige Auffrischimpfung ist im Alter von 9 bis 16 Jahren vorgesehen. Für bestimmte Risikogebiete im Ausland kann zudem eine Auffrischung nach zehn Jahren sinnvoll sein. Die Impfquote liegt dem RKI zufolge im bundesweiten Mittel bei etwa 90 Prozent.
Besonders niedrig ist die Quote in Baden-Württemberg: Im Jahr 2019 geborene Zweijährige waren dort nach RKI-Daten nur zu knapp 72 Prozent geimpft. Generell würden Kinder häufig zu spät geimpft, warnt Thomas Mertens, ehemaliger Direktor des Instituts für Virologie der Universität Ulm und früherer Stiko-Chef. Dadurch werde die Zahl ungeschützter kleiner Kinder vergrößert.