Böse Überraschungen aus dem Untergrund
Im Backnanger Stadtgebiet sind noch nicht für alle Straßen die Erschließungsbeiträge erhoben worden. Da die Kosten für den Straßenbau laut Verwaltung zu 95 Prozent auf die Eigentümer umgelegt werden (müssen), können auf einige Hausbesitzer noch satte Rechnungen zukommen.

© Edgar Layher
So können Straßen aussehen, die noch nicht endgültig ausgebaut sind. Das Foto zeigt den alten Zustand der Straße Am Krähenhorst in Sachsenweiler. Der Weg wurde inzwischen komplett ausgebaut. Danach wurden die Anwohner zur Kasse gebeten. Foto: Edgar Layher
Von Matthias Nothstein
Backnang. Das Thema ist ein heikles. Im gesamten Backnanger Stadtgebiet existieren zahlreiche Straßen, die noch nicht satzungsgemäß ausgebaut sind. Zumindest nicht auf der gesamten Länge und nicht im Hinblick auf jeden Bereich. Das bedeutet: Die Erschließungskosten wurden für diese Straßen oder einzelne Streckenabschnitte noch nie abgerechnet. Und das wiederum bedeutet, dass Grundstückseigentümer sich darauf einstellen müssen, dass ihnen im Lauf der Jahre noch eine satte Rechnung ins Haus flattern wird. Nämlich dann, wenn die Stadt die Straßen im Sinne des Erschließungsbeitragsrechts endgültig fertigstellt. Dieses endgültige Stadium ist dann erreicht, wenn nicht nur die Wasser- und Abwasserkanäle verlegt sind – das dürfte inzwischen überall der Fall sein – sondern es müssen auch Randsteine, Einlaufschächte, Entwässerungsrinnen und eine korrekte Beleuchtung vorhanden sein.
In der Vergangenheit haben städtische Bescheide dieser Art für großen Unmut gesorgt, denn oft handelte es sich um fünfstellige Summen, zuweilen sogar im oberen Bereich. Die Zahlungen wurden für Straßen fällig, die zum Teil schon 50, 70 oder gar 90 Jahre alt waren. Zuletzt beispielsweise in Sachsenweiler, wo die Straßen Am Krähenhorst, Am Dresselbach und die Dresselbachstraße saniert wurden. Keiner der Anwohner hatte damit gerechnet, dass die Stadt noch mit hohen Forderungen an sie herantreten würde.
Hat die Stadt Hemmungen davor, das heiße Eisen anzufassen?
Backnangs Erster Bürgermeister Stefan Setzer räumt ein, dass das Thema „nicht abgerechnete Erschließungsbeiträge“ ein ganz heißes Eisen ist. Offensichtlich so heiß, dass es von der Stadt nach den jüngsten Erfahrungen gar nicht mehr angefasst wird. Denn einige der Betroffenen von Sachsenweiler versuchen immer noch mit einer Sammelklage vor dem Verwaltungsgerichtshof Mannheim um die Zahlung herumzukommen. Ihre Argumentation: Es widerspricht dem Anspruch auf Rechtssicherheit, wenn auch noch nach vielen, vielen Jahren solche Rechnungen ins Haus flattern. Und diese Rechtssicherheit ist immerhin im Grundgesetz verankert.
In der Tat scheint es, also würde die Klage Wirkung zeigen. Es wurden zuletzt und es werden in näherer Zukunft keine Straßen ausgebaut, die noch nicht abgerechnet sind. Es rollen zwar demnächst wieder Bagger, dann in der Tilsiter, Danziger und Allensteiner Straße, aber deren Erschließung ist bereits vor vielen Jahren schon abgerechnet worden. Dasselbe gilt für das Mammutprojekt, dass die Stadt im Bereich In der Plaisir angehen möchte. Dort werden ab nächstem Frühjahr in der Calvinstraße, Leipziger Straße, Frankfurter Straße, Münchener Straße, Kölner Straße, Hamburger Straße, Reuchlinstraße, Gerokstraße und im Melanchthonweg unter anderem die maroden und unterdimensionierten Kanäle saniert. Die Arbeiten dauern bis Sommer 2026 und kosten 3,4 Millionen Euro.
Die Reihenfolge der Sanierungen hängt vom Zustand der Straßen ab
EBM Setzer widerspricht der Vermutung, die Stadt würde aus Sorge vor klagenden Anwohnern eventuelle Arbeiten an nicht abgerechneten Straßen vor sich herschieben. Vielmehr sei es so, dass die Entscheidung, welche Straße als Nächstes saniert wird, vom Zustand der jeweiligen Straße abhängt. Ausschlaggebend sind Schäden an der Oberfläche oder am Unterbau. Oder die Tatsache, dass in den Straßen ohnehin Kanäle oder Leitungen oder Glasfaserkabel verlegt werden müssen, so wie aktuell in der Schöntaler Straße (dort fallen auch keine Beiträge an). Nachdem in der Vergangenheit alle Straßen der Dringlichkeitskategorie eins (marode) aufgearbeitet worden sind, kommen nun Straßen der Kategorie zwei dran. Und darunter sind einige, bei denen noch Beiträge fällig werden. Eine Liste mit den Namen dieser Straßen möchte Setzer nicht in der Zeitung sehen. Die Folge wäre nämlich, dass das Telefon nicht mehr stillstehen würde. Und es würden immer drei Fragen gestellt werden: „Ist meine Straße betroffen? Was muss ich bezahlen? Wann kommt das?“ Diese Fragen sind allesamt nicht einfach zu beantworten. So sind zum Beispiel in einigen Straßen nur wenige Abschnitte betroffen. Zudem kann die Höhe der Beitragskosten erst genannt werden, wenn die Abrechnungen der Arbeiten vorliegen. Und wann welche Straße abgearbeitet wird, kann erst recht niemand sagen. Setzer: „Wir haben zwar eine Informationspflicht, aber es macht auch keinen Sinn, die Menschen zu verunsichern. Die Aufgaben sind im Detail sehr komplex. Ich möchte nur antworten, wenn ich auch eine sichere Auskunft geben kann.“ In einer schriftlichen Stellungnahme des Baurechtsamts heißt es: „Die Anzahl der Straßen, die bisher noch nicht erstmalig endgültig im Sinne des Erschließungsrechts hergestellt wurden und für die noch Erschließungsbeiträge erhoben werden können, ist leider nicht bekannt. Eine Gesamtübersicht hierzu gibt es nicht und ist auch nicht ohne großen Aufwand zu erstellen.“
Gleichzeitig betont Setzer, dass die Stadt die Beiträge laut Gesetz erheben muss, da gebe es keinen rechtlichen Spielraum. Dass manche Bürger auf die Gesetzeslage in anderen Bundesländern verweisen, lässt er nicht gelten. Im Gegenteil. Er dreht den Spieß sogar um und verweist zum Beispiel auf Rheinland-Pfalz, wo es möglich ist, die Bürger ein zweites Mal zur Kasse zu bitten, wenn wieder an der Straße gearbeitet wird.
Gemeinderat soll entscheiden, welche Straßen wann ausgebaut werden
Wie geht es nun weiter? Setzer erklärt, dass die Verwaltung verpflichtet ist, die Straßen auszubauen. Etwas Selbstkritik schwingt mit, wenn er sagt: „Wir hätten das in der Vergangenheit schon öfter machen sollen.“ Gleichzeitig betont er, dass dies aus Kapazitätsgründen oft nicht gegangen sei. Der Baubürgermeister schlägt vor, dass der Gemeinderat darüber beraten soll, welche Straßen künftig wann ausgebaut werden.
Beitragspflicht Es kommt immer wieder vor, dass für die erstmalige Herstellung von Straßen und Wegen die Beitragspflicht erst nach Jahrzehnten eintritt. Bei der erstmaligen endgültigen Herstellung handelt es sich laut Baugesetzbuch um einen Rechtsbegriff, weil es nicht darum geht, ob eine Erschließungsanlage technisch funktionsfähig hergestellt war. Entscheidend ist vielmehr zusätzlich, ob die rechtlichen Voraussetzungen für das Entstehen der sachlichen Beitragspflicht vorlagen. Bis zu 95 Prozent der Kosten für die Erschließung müssen dann vom Grundstückeigentümer gezahlt werden. Diese werden von der Gemeinde in einem Erschließungskostenbescheid ausgewiesen. Der Anspruch der Kommune auf die Erschließungsbeiträge wird erst mit der endgültigen Herstellung der Straße fällig.
Andere Länder In Nordrhein-Westfalen ist 2022 ein Gesetz in Kraft getreten, das Grundstückseigentümer vor einer teuren Überraschung Jahrzehnte nach dem Kauf ihres Hauses schützen soll. Das Gesetz sieht erstmals eine Frist vor. Nur bis maximal 25 Jahre nach dem Beginn der technischen Herstellung einer Straße dürfen die Kommunen Erschließungsbeiträge von Grundstückseigentümern erheben. In Brandenburg wurden mit Beschluss des Landtags die Straßenausbaubeiträge 2019 abgeschafft. In Berlin wurde das Straßenausbaubeitragsgesetz 2018 abgeschafft.
Beispiel In einem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Arnsberg wurde ein typisches Beispiel aufgelistet, bei dem eine Straße über mehrere Jahrzehnte errichtet wurde: Die Fahrbahndecke wurde 1937 aufgebracht, 1956 kam die Straßenbeleuchtung hinzu, 1976 der Abwasserkanal und 2010 folgten die Gehwege. Erst dann erfolgte die Abrechnung der Erschließungsbeiträge. Das Gericht wies darauf hin, dass die erstmalige endgültige Herstellung erst 2010 erfolgte und die Gemeinde erst dann berechtigt – und verpflichtet – war, die Erschließungsbeiträge geltend zu machen.
Empfehlung Käufern von Immobilien wird empfohlen zu prüfen, ob Erschließungskosten rückwirkend für die erstmalige Herstellung von Erschließungsanlagen für das Grundstück anfallen. Eine solche Überprüfung kann über einen Erschließungskostenbescheid erfolgen, den die jeweilige Gemeinde (Bauamt oder Tiefbauamt) auf Antrag gebührenpflichtig ausstellt.