Brücken der Verständigung gebaut
Aufklärung und Begegnungen waren ihre Mission: Jetzt ist Rachel Dror als ältestes Mitglied der Jüdischen Gemeinde mit 103 Jahren gestorben.
Von Heidemarie A. Hechtel
Stuttgart - Das älteste Mitglied der jüdischen Gemeinde, Rachel Zipora Dror, ist am zurückliegenden Schabbat mit 103 Jahren friedlich entschlafen. „Rachel Dror sel. A. prägte nicht nur das Gesicht unserer Gemeinde nach außen, sie genoss auch innerhalb der Gemeinde den allergrößten Respekt“, würdigt Barbara Traub, Vorstand der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW), die Verstorbene.
Sie wäre gern 150 Jahre alt geworden. Weil das Leben doch Spaß mache, hatte sie an ihrem 100. Geburtstag lachend erklärt. Es passte zu der zupackenden und lebensbejahenden Haltung, mit der Rachel Dror ihr Leben und Schicksal gemeistert hat. Sie war eine starke und mutige Persönlichkeit, tief im Judentum verwurzelt. Zeugnis abzulegen über beides, das Judentum und ihr Leben, war ihr Anliegen, das sie über Jahrzehnte erfüllte: In Seminaren der Landeszentrale für politische Bildung, im Erzieherausschuss der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (GCJZ), noch bis kurz vor ihrem 100. Geburtstag in Schulen und bei Führungen in der Synagoge. „Ich will eine Brücke der Verständigung schlagen und dem Judentum das Mysteriöse nehmen“, hatte sie ihren Einsatz schon vor mehr als 40 Jahren, bei der ersten Begegnung mit der Schreiberin dieser Zeilen, begründet. „Wir dürfen uns nicht abschließen, müssen offen sein.“ Diese Öffnung der IRGW hin zur Stadtgesellschaft hatte nach Jahren des Abkapselns unter dem Trauma der Shoah erst zaghaft begonnen, heute ist sie selbstverständlich.
„Ich will auch erzählen, wie es bei uns zuhause war“, hatte Rachel Dror beim ersten Gespräch 1982 gesagt. Ihr Zuhause war Königsberg, wo sie am 19. Januar 1921 als Tochter des Holzkaufmanns Hugo Chaim Lewin und seiner Frau Esther geboren worden war. „Das bin ich meinen Eltern schuldig“, hatte sie hinzugefügt. Denn die Eltern wurden 1945 in Auschwitz ermordet. Kindheit und Jugend waren unbeschwert, man lebte orthodox, befolgte die Gesetze. Gleichzeitig bestimmten Toleranz, preußische Disziplin, Wahrhaftigkeit und Pioniergeist die Erziehung. Denn ihr Vater, Offizier im Ersten Weltkrieg, war Zionist und Kämpfer für einen Staat Israel. Seine Tochter schloss sich 1935 der Hachscharah, der Auswanderungsgruppe für Palästina, an.
Rachel Dror ist die Auswanderung nach Palästina noch gelungen, am 29. April 1939 bestieg sie das Schiff in Triest. Den Eltern blieb die Rettung im Sehnsuchtsland verwehrt. Denn Palästina war unter britischer Herrschaft, und die Briten ließen keine Deutschen mehr einreisen, ohne Ausnahme. Sie habe sich, so Rachel Dror, die tödliche Gefahr durch die Nazis nicht vorstellen können, selbst das Reichspogrom 1938 in Hamburg überstanden und von Vernichtungslagern nichts gewusst. In Israel erhielt sie am 15. Mai 1945 die Nachricht vom Tod der Eltern. „Aber ich wollte mich nicht damit belasten, nichts wissen von den Gräueln in den KZ. Ich wollte frei leben“, bekannte Rachel Dror immer, die bewusst diesen Namen gewählt hatte: Dror bedeutet Freiheit.
1948, nach der Gründung des Staates Israel, wurde die damals 27-Jährige die erste Polizistin dort. Eine Gesetzeshüterin von preußischer Strenge, die sich manchmal böse beschimpfen lassen musste: Als „Nazischwein“ oder sogar „KZ-Schergin“.
Aus gesundheitlichen Gründen kehrte sie mit Mann und Tochter 1958 nach Deutschland zurück, fand in Stuttgart und der jüdischen Gemeinde eine Heimat, orientierte sich beruflich neu als Kunst- und Technikerzieherin an der Immenhofer Schule und machte Aufklärung zu ihrer Mission. Dass heute ein Gedenkort an die 1938 niedergebrannte Synagoge in Cannstatt erinnert, geht auf ihre Initiative zurück. Für ihre Verdienste wurde sie 1996 mit der Otto-Hirsch-Medaille der Stadt und 20212 mit dem Verdienstorden des Landes geehrt.
Zum 100. Geburtstag hatte sich Rachel Dror, die in den letzten Jahren im Altenheim der IRGW lebte, Bäume für Israel gewünscht. Das Land, in dem Tochter, Enkel und Freunde leben, ist das Land ihres Herzens geblieben. Hier wollte sie, hat sie vor langer Zeit bestimmt, auch beerdigt werden.