Zukunft der Demokratie

Bundestagspräsidentin: „Unser Parteiensystem darf nicht zerbröseln“

Was ist der richtige Umgang mit der AfD? Und was der richtige Ton in der Debatte über Migration? Bundestagspräsidentin Bärbel Bas fordert Respekt auch für die Leistungen der Zuwanderer – und hofft weiter auf einen überparteilichen Kompromiss.

Bärbel Bas beim Interview in ihrem Reichstagsbüro

© /Marco Urban

Bärbel Bas beim Interview in ihrem Reichstagsbüro

Von Tobias Peter und Norbert Wallet

Gut gelaunt empfängt Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) zum Gespräch – obwohl es keinesfalls um Wohlfühlthemen geht. Bas zieht Bilanz darüber, wie sich das Auftreten der AfD im Parlament in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Und sie mahnt die demokratischen Parteien und die Gesellschaft, den Kompromiss als Weg zur Lösungsfindung stärker wertzuschätzen.

Frau Bas, Sie haben vorgeschlagen, das Wahlalter generell auf 16 Jahre abzusenken. Bei den Landtagswahlen im Osten war die in Teilen rechtsextreme AfD bei Jungwählern besonders erfolgreich. Wollen Sie es sich da mit Ihrer Forderung lieber noch mal überlegen?

Nein. Ich werbe sehr dafür, dass junge Menschen ab 16 Jahren auch bei der Bundestagswahl ihre Stimme abgeben dürfen. Das ist eine grundsätzliche Frage, bei der es um eine faire Beteiligung geht. Und darum, dass junge Menschen mit ihren Anliegen gehört werden. Das darf man nicht davon abhängig machen, ob einem ein Wahlergebnis gefällt oder nicht.

Wie kommt es, dass so viele junge Menschen rechts wählen?

Der Erfolg populistischer Kräfte bei jungen Wählern hat viel damit zu tun, dass diese sehr erfolgreich auf TikTok und in den sozialen Medien präsent sind. Ich treffe viele Schulklassen und frage immer: „Wie informiert ihr euch?“ Die Antwort fällt eindeutig aus. Populistische Videos zu machen, ist leider einfacher, als mit Fakten dagegenzuhalten. Dennoch gilt: Im Umgang mit den sozialen Medien müssen auch die anderen Parteien besser werden. Man muss heute da sein, wo die jungen Menschen sind.

Muss sich in den Schulen etwas ändern, um Kinder und Jugendliche mehr für die Demokratie zu begeistern?

Wie viele Schülerinnen und Schüler und Lehrkräfte auch, wünsche ich mir eine Stärkung der politischen Bildung in der Schule. Ein grundlegendes Verständnis der politischen Entscheidungsprozesse ist wichtig für die Zukunft unserer Demokratie. Wo, wenn nicht im Unterricht, können junge Menschen lernen, Fakenews von richtigen Nachrichten zu unterscheiden? Wenn junge Leute mit 16 wählen gehen könnten, wäre das eine große Chance, sie in der Schule darauf vorzubereiten und sachlich über politische Themen zu diskutieren. Auch die Parteien müssten sich dann viel stärker engagieren, um diese Wählergruppe zu erreichen.

Muss der Bundestag jünger werden?

Wir brauchen alle. Der Bundestag sollte – soweit es eben geht – die gesamte Bevölkerung repräsentieren. Auch junge Erwachsene müssen im Parlament sichtbar sein. Ihnen sollte auch keiner vorhalten: „Du hast Deine Ausbildung oder Dein Studium noch gar nicht abgeschlossen.“ Jungen Abgeordneten empfehle ich aber: Macht Euren Abschluss! Ihr werdet nicht immer im Deutschen Bundestag sein.

Sie sind seit fast drei Jahren Präsidentin des Deutschen Bundestags. Hat sich in dieser Zeit Ihre Sicht auf die AfD noch mal verändert?

Die Sprache ist härter geworden, vor allem diskriminierender. Die gesellschaftliche Polarisierung spiegelt sich zunehmend auch in den parlamentarischen Debatten wider. Das hat das gesamte Parlament verändert. Inzwischen geht es häufig um persönliche Attacken, deshalb hat die Zahl der Ordnungsrufe deutlich zugenommen. Einer Kultur, in der mancher Ordnungsrufe als Trophäen sieht, müssen wir entschieden entgegentreten.

Wie gehen Sie also mit der Situation um?

Als Parlamentspräsidentin bin ich neutral. Unsere Regeln gelten für alle gleich. Wichtig ist, sich als Sitzungsleiterin Respekt zu verschaffen. Da ist es unerlässlich, gleich zu Beginn einer Legislaturperiode seinen eigenen Stil zu finden. Ich versuche die Perspektive der Bürgerinnen und Bürger einzunehmen und sage den Abgeordneten: „Können Sie sich jetzt bitte benehmen? Was glauben Sie, was die Zuschauerinnen und Zuschauer bei Ihrem Verhalten über den Bundestag denken?“

Sollte die AfD verboten werden?

Die Demokratie muss wehrhaft sein. Deshalb muss man auch über die Instrumente, die sie schützen, sprechen. Das bedeutet im äußersten Fall: Ein Verbot ist eine Option, wenn eine Partei die Verfassung bekämpft und unsere Demokratie abschaffen will. Deshalb ist es gut, dass unsere Sicherheitsbehörden bei extremistisch auftretenden Parteien genau hinschauen. Für ein Parteiverbot brauchen wir allerdings eine klare Beweislage dafür, dass eine Partei darauf hinarbeitet, unsere Demokratie zu stürzen. Dann sollten Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat handeln. Nur: Die Beweise müssen klar und eindeutig sein.

Ist die AfD nicht mittlerweile zu groß, um sie zu verbieten?

Es ist nicht entscheidend, wie groß eine Partei ist. Es geht um die Sache.

Was ist aus Ihrer Sicht der größte Fehler, den man im Parlament im Umgang mit der AfD machen kann?

Die Menschen erwarten zu Recht, dass wir uns Ihrer Probleme annehmen. Momentan geht es nicht zuletzt darum, in schwierigen Zeiten den Menschen ihren Arbeitsplatz zu sichern. Da sind auch wir als Abgeordnete gefordert. Darauf müssen wir uns konzentrieren. Das gibt den Leuten Sicherheit, so dass sie nicht denen in die Arme laufen, die jeden Tag Angst schüren und den Zusammenhalt in dieser Gesellschaft kaputt machen.

Dass viele Menschen gerade dort hinlaufen, ist kein gutes Zeugnis für die Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP.

Die Art, wie SPD, Grüne und FDP sich immer wieder öffentlich gestritten haben, hat geschadet. Wenn eine Einigung verkündet wird, kann nicht eine Stunde später jemand vor die Kameras treten und sagen: „Das war nicht so gemeint.“ Wenn jetzt alle drei regierenden Parteien mit Blick auf die Bundestagswahl im kommenden Jahr schon sagen, sie müssten ihr Profil schärfen, kann es schwierig werden. Ein Jahr vor der Wahl ist zu früh, um mit dem Regieren aufzuhören.

Das Bündnis Sahra Wagenknecht kommt jetzt als neuer Mitspieler im Parteiensystem hinzu. Wie bewerten sie die Entwicklung?

Unser Parteiensystem darf nicht zerbröseln. Das sage ich völlig unabhängig von bestimmten Parteien. Wir haben vor wenigen Wochen 75 Jahre Deutscher Bundestag gefeiert. Ein Parlament, das auch bei schwierigen Themen Kompromisse gefunden und stabile Mehrheiten gebildet hat. Wenn aber alle Parteien zunehmend nur auf ihren Markenkern pochen, dann wird es schwierig mit guten Lösungen. Im Ausland sind wir immer für unser stabiles politisches System beneidet worden.

Sie sind Duisburgerin, kommen also aus einer Stadt, in der Migration eine große Rolle spielt. Spiegelt die aktuelle Migrationsdebatte die Realität gut wider oder nicht?

Ich mache mir Sorgen darüber, wie die Debatte über Migration aktuell in der Öffentlichkeit geführt wird. Es gibt viele Menschen mit Migrationsgeschichte, die dieses Land mit aufgebaut haben. Wenn wir die Zuwanderung in den 50er- und 60er-Jahren nicht gehabt hätten, wäre Deutschland nie so erfolgreich gewesen. Auch jetzt braucht Deutschland qualifizierte Menschen, die zu uns kommen und mithelfen, den Wohlstand zu erhalten. Zu viele reden über Zuwanderung so, als sei sie nur noch etwas Schlechtes. Viele Menschen, die schon lange in Deutschland leben, haben Angst. Sie erzählen mir, dass sie plötzlich komisch von ihren Nachbarn angeschaut werden. Das darf nicht sein.

Viele Menschen wünschen sich eine Begrenzung der irregulären Migration.

In der Sache muss sich etwas bewegen – das ist für mich gar keine Frage. Mir geht es aber auch um die Tonlage und den Fokus der Debatte. Richtig ist: Es gibt Probleme mit Menschen, die sich nicht integrieren wollen. Es gibt auch Clankriminalität. Und es gibt Kommunen, die mit der Unterbringung und Integration überfordert sind. Deutschland braucht sicherlich mehr Ordnung bei der Zuwanderung. Aber Menschen mit Migrationsgeschichte, die hier leben und viel leisten, müssen die Wertschätzung der Gesellschaft spüren.

Braucht es in der Debatte über die Migration einen Kompromiss zwischen Regierung und Union?

Ich würde mir gemeinsame Beschlüsse von Regierung und Union in den Fragen, bei denen es um die Steuerung der Migration geht, sehr wünschen. Das würde einen großen Beitrag zum gesellschaftlichen Frieden leisten.

Thema Wahlrecht. Der nächste Bundestag wird kleiner – aber dafür gibt es ein Wahlrecht, das in seinen Einzelheiten schwer verständlich ist. Ist dieser Preis nicht zu hoch?

Das Wahlrecht war schon immer kompliziert. Das neue Herzstück des Wahlrechts verhindert das Entstehen von Überhangmandaten und schafft so die entscheidende Grundlage dafür, dass der Bundestag kleiner wird und auf 630 Abgeordnete begrenzt bleibt. Das ist ein klares Signal an die Wählerinnen und Wähler, dass Politik auch unliebsame Entscheidungen in eigener Sache treffen kann. Und es stimmt: Die Tatsache, dass künftig einige wenige Wahlkreisgewinner nicht in den Bundestag einziehen, ist nicht gleich auf Anhieb zu verstehen.

Und wie erklären Sie es Bürgern?

Ein Beispiel aus dem Fußball: Wenn jemand ein Tor schießt, aber im Abseits steht, wird ihm das Tor aberkannt. Wenn jemand mit einem sehr niedrigen Ergebnis – sagen wir mal 26,7 Prozent – einen Wahlkreis gewinnt, kann er auch nicht wirklich behaupten, dass er die Mehrheit im Wahlkreis hinter sich hat und aus diesem Wahlergebnis einen automatischen Anspruch auf ein Mandat ableiten kann.

Aber gerade das sind besonders umkämpfte Wahlkreise.

Das stimmt. Es ist keine Überraschung, dass ein CSU-Politiker in Bayern oder ich in Duisburg Wahlkreise haben, die man noch klarer gewinnen kann – obwohl auch das keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Wer über die Liste einzieht, dessen Arbeit ist aber genauso viel Wert wie die eines Wahlkreis-Gewinners. Eine perfekte Lösung gibt es nicht, aber wir verhindern künftig ein unkontrolliertes Anwachsen des Bundestages. Das ist wichtig für die Planungssicherheit, die Kostenbegrenzung und Arbeitsfähigkeit des Deutschen Bundestages.

Das Gespräch führten Tobias Peter und Norbert Wallet.

Von der Hauptschülerin zur Bundestagspräsidentin

FamilieBärbel Bas, geboren im Jahr 1968, ist mit fünf Geschwistern aufgewachsen. Ihre Eltern, so sagt es die heutige Bundestagspräsidentin, hätten strikt auf Parität geachtet: drei Mädchen, drei Jungs. Die 56-Jährige selbst ist verwitwet.

BerufNachdem Bas die Hauptschule mit der Fachoberschulreife abgeschlossen hatte, fand sie keinen Ausbildungsplatz in ihrem Wunschberuf als Technische Zeichnerin. Sie fing als Bürogehilfin bei der Duisburger Verkehrsgesellschaft an. Später machte sie eine Ausbildung zur Sozialversicherungsfachangestellten und studierte Personalmanagement. 

PolitikSeit dem Jahr 2009 ist Bas für ihre Heimatstadt Duisburg Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Sie war stellvertretende Fraktionsvorsitzende, zuständig für Gesundheits- und Bildungspolitik. Nach dem Sieg der SPD bei der Bundestagswahl 2021 wurde sie zur Bundestagspräsidentin gewählt.

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Erstellt:
28. September 2024, 00:10 Uhr

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