70 Jahre Europäisches Kernforschungszentrum
Cern – Hightech-Forschung auch für den Alltag
Tumorbekämpfung, Daten-Verschlüsselung, energiesparende Stromleitungen: Was hat das mit komplizierter Teilchenphysik zu tun? Das Kernforschungszentrum Cern bei Genf ist überall mit im Spiel.
Von Markus Brauer/dpa
Beim Thema Physik denken manche Menschen mit Schrecken an ihre Schulzeit zurück, und Kernforschung ist auch nicht wirklich etwas für angeregte Plauderstunden.
Dabei ist die Arbeit von Teilchenphysikern sehr spannend. Und von ihren bahnbrechenden Erfindungen am Cern – der Europäischen Organisation für Kernforschung – in Genf profitiert jeder im Alltag: beim Internetsurfen, beim Arztbesuch und vielem mehr.
Dem Ursprung des Universums auf der Spur
Die Organisation will dem Ursprung des Universums auf die Spur kommen. Am 29. September feiert sie 70. Geburtstag. An diesem Tag im Jahr 1954 ging für Physiker in aller Welt mit der Inbetriebnahme des ersten Teilchenbeschleunigers am Cern ein Traum in Erfüllung. Der Staatsvertrag für das Europäische Kernforschungszentrum trat in Kraft.
Welcome to the September/October issue of @CERNCourier In this issue: celebrating #CERN70 by looking to the future, voices of a new generation, electroweak precision at the #LHC, semiconductor pixels for society, new physics could be hiding in the #Higgs self-coupling, BASE… pic.twitter.com/hsTPhkpbs0 — CERN (@CERN) September 20, 2024
Europäische Physik-Kollaboration
- Der Name Cern ist die Abkürzung des französischen Namens der Organisation: Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire (Europäischer Rat zur Nuklearforschung). Die Organisation will als europäische Physik-Kollaboration fundamentale Fragen der Physik zur Natur von Materie und Energie ergründen.
- Mittlerweile sind 24 Staaten beteiligt, darunter Deutschland, das mit Abstand der größte Geldgeber ist. Das Jahresbudget der Forschungsstätte belief sich 2023 auf rund 1,23 Milliarden Schweizer Franken (1,27 Milliarden Euro).
- Am 1. Oktober wird der 70. Gründungstag des Cern offiziell gefeiert. Direkt beim Cern arbeiten etwa 2500 Leute, die Kollaborationen mit Physiker in aller Welt, die Daten auswerten, umfassen mehr als 17 000 Menschen.
Bahnbrechende Erfindungen am Cern
Was hat die Kernforschung am Cern für die Menschheit nicht schon alles gebracht. Das sind einige hier entstandene Erfindungen:
World Wide Web
- 1989 präsentierte der britische Physiker und Informatiker Timothy John Berners-Lee am Cern eine Idee, die sich als bahnbrechend für die Internet-Kommunikation herausstellen sollte: ein digitales Informationsnetz, bei dem die Inhalte als universeller Hypertext aufbereitet und mit anklickbaren Links vernetzt werden.
- Innerhalb weniger Monate entwickelte Berners-Lee die notwendigen Komponenten: URLs wie info.cern.ch für Web-Adressen, die Seitenbeschreibungssprache HTML für Web-Pages, das technische Protokoll HTTP für Links und das Konzept für einen Webbrowser.
- Im April 1993 stellte das Cern den Programmcode des World Wide Web (www) der Öffentlichkeit zu Verfügung und begründete damit einen beispiellosen Siegeslauf der Web-Technologie.
Touchscreen und Surfen
Der dänische Ingenieur Bent Stumpe entwickelte am Cern Vorläufer zweier weiterer heute gängiger Anwendungen, und das schon in den 1970er Jahren: Er präsentierte den ersten transparenten Touchscreen, auf dem – wie heute bei jedem Smartphone oder Tablet – die Berührung des Bildschirms reicht, um Dinge zu bewegen. Mit Bowlingbällen baute er einen Trackingball, mit dem ein Cursor auf dem Bildschirm bewegt werden kann – ein Vorläufer der Computer-Maus.
Inszenierung des Urknalls
Am Cern wird erforscht, was in den ersten Sekunden nach dem Big Bang, der Geburtsstunde des Universums, geschah. Ob es noch kleinere Teilchen als Quarks gibt und was es mit der Antimaterie auf sich hat. Um den Zustand unmittelbar nach dem Urknall zu simulieren, hat das Cern den Teilchenbeschleuniger LHC gebaut.
Rund vier Jahrzehnte ist es her, da tauchte erstmals die Idee des Large Hadron Collider auf. Die damaligen Beschleuniger stießen an ihre Grenzen. 1985 begannen Schweizer Ingenieure mit dem Bau des Tunnels, den sie drei Jahre später fertigstellten. Danach ging der Large Electron Positron Collider (LEP) an den Start, der 2000 abgeschaltet wurde.
Die größte Maschine der Menschheit
- Bis zu 150 Meter tief, im Grenzgebiet zwischen der Schweiz und Frankreich, erstreckt sich der kreisrunde LHC-Tunnel vom Genfer See bis zum französischen Jura. Der größte Teilchenbeschleuniger der Welt war 2015 nach einer Generalüberholung und Modernisierung wieder in Betrieb gegangen.
- In einem 27 Kilometer langen, ringförmigen Tunnel 100 Meter unter der Erde im schweizerisch-französischen Grenzgebiet werden Protonen oder Ionen mit hoher Energie zur Kollision gebracht.
- Bei Zusammenstößen entstehen Regen von Folgeteilchen. Physiker analysieren sie mit vier Detektoren von der Größe mehrstöckiger Häuser. Die Zahl der auswertbaren „Unfallbilder“ wurde mit dem modernisierten LHC von 20 Millionen auf 40 Millionen gesteigert – pro Sekunde.
Medizin und Diagnostik
Diese Technologie macht sich auch die Medizin zunutze. Bei einem PET-Scan werden wie in Cern-Detektoren Photonen gemessen, die Zellen oder Gewebe sichtbar machen, die viel Energie verbrauchen, darunter entzündetes oder Tumorgewebe.
Er unterscheidet sich von anderen bildgebenden Verfahren wie der Magnetresonanztomographie (MRT), die Gewebe, Organe und Knochen abbilden. Beim PET-Scan (PET steht für Positronen-Emissions-Tomografie) wird sehr wenig und praktisch unschädliches Kontrastmittel eingesetzt.
Neben Diagnosen sind auch Behandlungen aus Cern-Erfindungen hervorgegangen: Am Heidelberger Ionenstrahl-Therapiezentrum (HIT) werden Tumore bei Krebskranken seit 2009 zum Beispiel mit Schwerionen und Protonen bestrahlt, die tief im Körper liegende Tumore zerstören können und dabei umliegendes gesundes Gewebe schonen sollen. Das ist bei Tumoren an heiklen Stellen wie der Schädelbasis oder dem Sehnerv besonders wichtig.
Mobilität und Umwelt
Den Teilchenbeschleuniger LHC in Gang zu setzen, braucht viel Energie. Um möglichst wenig beim Transport zu verlieren, hat das Cern Supraleiter aus Metalllegierungen mitentwickelt, die bei Temperaturen von minus 270 Grad keinen Widerstand haben. Die Ingenieure arbeiten daran, dies möglichst auch ohne so tiefe Kühlung hinzubekommen.
Für den Flugzeughersteller Airbus ist das interessant. Airbus arbeitet an einem Brennstoffzellen-Antrieb, der aus flüssigem Wasserstoff und Sauerstoff Energie generiert. Mit Supraleitern könnte die Energie verlustfrei zu den Triebwerken gebracht werden. In Zukunft könnten Supraleiter, die nicht so tiefe Kühlung brauchen, auch bei der Nutzung von Brennstoffzellen im Alltag dienen, erklärt Cern-Physiker Sascha Schmeling.
Cybersicherheit
Um die riesige LHC-Maschine präzise zu steuern und die vielen Daten zu verarbeiten, sind sehr spezielle Programme nötig. Cern-Entwicklungen macht sich zum Beispiel die deutsche Börse zunutze, um beim elektronischen Handel prüfen zu können, in welcher Nanosekunde wer welche Transaktion vorgenommen hat. Das Projekt trägt den Namen „White Rabbit“ (Weißes Kaninchen).
Zwischen Cern und Bundesdruckerei in Berlin besteht ein Austausch zu Möglichkeiten, um die Sicherheit von sensiblen Daten mit Methoden des Cern zu verbessern.
Quantentechnologie ist ein anderes Feld, mit dem das Cern sich beschäftigt, etwa zum Bau supersensibler Sensoren. Das Fraunhofer-Institut schreibt: „Quantentechnologien ermöglichen völlig neue, noch nie dagewesene Anwendungen in der Messtechnik, Bildgebung, Kommunikationssicherheit und bei hochkomplexen Berechnungen.“
Um diese und andere Anwendungen transparent und mit anderen zu entwickeln, hat das Cern die Führung in einer Zusammenarbeit namens Quantentechnologie-Initiative übernommen.
Welt der Kunst
Mit Cern-Technologie können Gemälde analysiert werden, ohne die Werke zu beschädigen. So können mithilfe spektroskopischer Röntgenbilder tiefer liegende Farbschichten oder die Zusammensetzung der Farben erkannt werden, was Rückschlüsse auf Epochen und einzelne Maler erlaubt.
So konnte das tschechische Unternehmen InsightART 2020 ein Gemälde aus einer Privatsammlung dem Renaissance-Maler Raffael zuordnen.