Justiz braucht wegen wachsenden Wettbewerbs neue Ideen
dpa/lsw Karlsruhe/Stuttgart. Der Justiz gehen vor allem große Wirtschaftsstreitigkeiten flöten. Der Rechtsstandort Deutschland könnte dadurch geschwächt werden. Daher wollen die Verantwortlichen im Land neue Angebote schaffen.
Um im Wettbewerb zu bestehen, müssen sich die Gerichte in Deutschland nach Einschätzung des Karlsruher Oberlandesgericht-Präsidenten Alexander Riedel etwas einfallen lassen. Große Wirtschaftsstreitigkeiten würden vermehrt an sogenannten Schiedsgerichten geklärt. Davon hingen Gerichtsgebühren ab, erklärt Riedel. Weil die Schiedsgerichte nicht öffentlich verhandeln, könne die Justiz zudem keine „Prägekraft“ mehr entwickeln. Auch aus dem baden-württembergischen Justizministerium heißt es: „Das Abwandern großer Wirtschaftsstreitigkeiten in die Schiedsgerichtsbarkeit birgt die Gefahr, dass in einigen Bereichen des Wirtschaftsrechts kaum noch Rechtsfortbildung stattfindet und dass dadurch der Rechtsstandort Deutschland geschwächt wird.“
Seit Jahren habe es am OLG keine Rechtsstreitigkeiten mehr unter Bauträgern gegeben, sagte Riedel. Auch am Bundesgerichtshof als oberster Instanz in Deutschland für Zivilrechtsfragen landeten manche Themen überhaupt nicht mehr. Zu den Schiedsgerichten hinzu kämen Ombudsmänner, Schlichtungsstellen und Angebote im Internet. Es gebe „viel Bewegung auf dem Rechtsmarkt“, sagte Riedel. „Wir müssen neu nachdenken, wie wir Angebote anpassen, damit wir attraktiv bleiben.“
Denn die Folgen sind deutlich: Seit zehn Jahren geht die Zahl der Eingänge bei Zivilverfahren laut Riedel zurück. Das Problem sei, dass vor allem die leichteren, schnell zu bearbeitenden Fälle ausbleiben. Daher führten weniger Verfahren nicht zu weniger Arbeit, betonte er.
Als Gegenmaßnahmen hat das OLG zum Beispiel sogenannte Güterichter eingeführt. Sie sind verantwortlich für gerichtliche Schlichtungen. In Norddeutschland gebe es das häufiger, sagte Riedel. „Bei uns ist das ein zartes Pflänzchen, das wir gießen.“ Viele Betroffene lehnten eine solche Schlichtung aber ab, weil sie sich im Recht sähen.
Um weiter große Wirtschaftsstreitigkeiten verhandeln zu können, hatte Baden-Württemberg im vergangenen November die sogenannten Commercial Courts eingeführt: In Mannheim und Stuttgart sollen auf Wirtschaftsrecht spezialisierte Richter schnell und effizient und bei Bedarf auch auf Englisch Streitfälle lösen. Nach Angaben des Ministeriums sind mehr als 200 Verfahren eingegangen. „Viele dieser Verfahren konnten bereits erledigt werden“, erklärte ein Sprecher.
Wie viele Schiedsverfahren es in Deutschland insgesamt gibt, ist unklar - gerade weil sie nicht öffentlich verhandelt werden. Der Verein Deutsche Institution für Schiedsgerichtsbarkeit (DIS) ist laut Riedel ein großer Anbieter. Nach DIS-Angaben gab es vergangenes Jahr 165 Verfahren, fast zehn Prozent mehr als 2019. Der Gesamtstreitwert habe 2020 bei weit mehr als zwei Milliarden Euro gelegen.
Richter könnten den Job als Nebentätigkeit machen, erklärte Riedel. Als Richter an Schiedsgerichten könnten aber auch Rechtsanwälte tätig werden oder sogar Nicht-Juristen, wenn es zum Beispiel um technische Fragen gehe, die ein Ingenieur beurteilen müsse. Für international komplexe Fälle, bei denen Rechtsgrundlagen verschiedener Länder eine Rolle spielen, seien solche Schiedsgerichte sicher gut, sagte Riedel. Auch der Staat nutze diese Möglichkeit, sagte er mit Verweis auf den Streit des Landes Baden-Württemberg mit dem französischen Energiekonzern EDF um den Kaufpreis von EnBW-Anteilen vor Jahren.
Dass gerade Unternehmen ein Interesse an den Schiedsgerichten hätten, ist aus Riedels Sicht verständlich: Sie könnten viel vorbestimmen, unter anderem einen der drei Richter. Konflikte würde ohne Publikum und in nur einer Instanz gelöst. Sollte eine Partei aber unzufrieden sein, könne sie das Ergebnis etwa vor dem OLG auf Verfahrensfehler prüfen lassen. Bei Patentfragen etwa oder auch in Masseverfahren sind Schiedsgerichte dagegen aus Riedels Sicht ungeeignet.
Der OLG-Präsident sprach sich darüber hinaus für kürzere Prozesse aus: „Die deutsche Justiz hat einen guten Ruf. Wenn es aber ans Eingemachte geht, dauern die Verfahren länger.“ Ein Thema, das auch das Ministerium sieht: „Entscheidend ist nicht nur, dass die Gerichte die Rechtsstreitigkeiten kompetent entscheiden, sondern auch, dass dies innerhalb einer überschaubaren Zeit geschieht“, so der Sprecher.
Das Ministerium verweist zudem auf länderübergreifende Überlegungen zur Stärkung des Justizstandorts - insbesondere zur Möglichkeit, eine erstinstanzliche Zuständigkeit eines Oberlandesgerichts für Handelssachen mit einem Streitwert ab zwei Millionen Euro einzuführen, wenn die Parteien dies beantragen. Dann würden darunter liegende Instanzen etwa an einem Landgericht wegfallen, es würde Zeit gespart.
„Auch bei zivilrechtlichen Streitigkeiten zwischen Verbrauchern und Unternehmern, die sehr häufig vorkommen und in denen es um niedrige Streitwerte geht, sollen mit Änderungen insbesondere in der Zivilprozessordnung, digitale Angebote für einfach gelagerte Verfahren mit geringen Streitwerten geschaffen werden“, erklärte der Sprecher weiter. „Wir unterstützen diese Bestrebungen, die allerdings vom Bundesgesetzgeber umgesetzt werden müssen.“
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