Lucha: Intensivbetten sollen das Maß aller Dinge werden
dpa/lsw Stuttgart. Lockdown oder Lockern? Bislang bestimmte die Sieben-Tage-Inzidenz den Alltag in der Pandemie. Nun plant Gesundheitsminister Lucha eine radikale Kehrtwende - und schlägt einen neuen Grenzwert vor.
Der baden-württembergische Gesundheitsminister Manne Lucha will künftig die Auslastung der Intensivbetten zur Messlatte für Einschränkungen im Kampf gegen das Coronavirus machen. Aus seiner Sicht soll es ab Herbst stärkere Restriktionen für Nichtgeimpfte geben, sobald 300 Intensivplätze in Baden-Württemberg mit Covid-Patienten belegt sind. Das kündigte der Grünen-Politiker am Montag bei einer Sondersitzung des Sozialausschusses in Stuttgart an.
Nach Angaben des DIVI-Intensivregisters (Stand: Montag, 16.00 Uhr) werden derzeit 50 Covid-Fälle intensivmedizinisch behandelt. Insgesamt sind demnach landesweit 1909 von betreibbaren 2343 Intensivbetten (81,5 Prozent) belegt.
Die Belegung der Intensivbetten mit Corona-Patienten sei ein geeigneter Grenzwert für Einschränkungen ab dem Herbst, heißt es in einem Konzeptpapier aus Luchas Ministerium, das der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. Die Begründung für den Paradigmenwechsel lieferten unter anderem Daten aus Großbritannien, wo sich Inzidenzen und Auswirkungen auf die Krankenhäuser um den Faktor 4 bis 5 entkoppelt hätten, seitdem der Großteil der Bevölkerung durchgeimpft ist.
In dem Papier wird der neue Indikator als „AIB“ bezeichnet, was für die Auslastung der Intensivbetten-Kapazität steht. Damit rückten nun lebensrettende Intensivbetten in den Fokus, heißt es. „Kommt es hier zu Knappheiten, sind wir im Bereich von Triage.“ Das müsse unbedingt verhindert werden.
30 Prozent seien der gerade noch leistbare Wert der prozentualen Inanspruchnahme der Intensivbetten mit Corona-Patienten, heißt es in dem Papier. Eine Vorwarnstufe könnte bei 15 Prozent liegen, schlägt das Ministerium vor. Allerdings habe ein relativer Wert den Nachteil, dass er vom verfügbaren Personal abhänge. Ein absoluter Grenzwert normiere hingegen die gerade noch im Land behandelbaren Corona-Patienten. „Folgt man den bisherigen Erfahrungen, könnte dieser Wert bei 400 bis 500 liegen“, heißt es. „Ein Grenzwert mit hinreichendem Abstand sollte bei 300, eine Vorwarnstufe könnte bei 150 Patienten liegen.“ Damit verfüge man über noch einen ausreichenden Puffer für Gegenmaßnahmen.
Lucha kündigte zudem an, die Corona-Regeln trotz steigender Infektionszahlen im September vorübergehend lockern zu wollen. Die aktuelle Corona-Verordnung laufe am 23. August aus, teilte das Ministerium mit. Es sei beabsichtigt, in der Folgeverordnung die Inzidenzschwellenwerte für Einschränkungen um eine Stufe nach oben zu heben - also von 35 auf 50. Das Kabinett muss dem noch zustimmen. Diese Folgeverordnung soll dann bis 20. September gültig sein. Ab Mitte September rechnet das Land mit einem Paradigmenwechsel, da dann jedem Impfberechtigten in Baden-Württemberg ein Impfangebot gemacht worden sei, sagte Lucha.
Das Gesundheitsministerium geht von erneut dreistelligen Inzidenzwerten im Herbst aus. Das Coronavirus werde sich hauptsächlich unter der nicht geimpften Bevölkerung ausbreiten, heißt es in dem Konzeptpapier. „Im Verlauf von Herbst und Winter 2021/22 werden sich die allermeisten Personen aus dieser Gruppe mit dem Corona-Virus infizieren und es werden auch Todesfälle zu beklagen sein.“ Ungeimpfte im Alter über 80, die sich infizierten, würden wohl mit einer 20-prozentigen Wahrscheinlichkeit infolge der Infektion sterben. „Die sich nicht impfen lassen, gehen diesen risikoträchtigen Weg willentlich und freiwillig.“
Ursachen für die erwarteten hohen Inzidenzen seien die höhere Ansteckungsgefahr der Delta-Variante, mehr Kontakt der Bevölkerung nach Öffnung aller Bereiche und auch das kältere Wetter, das die Menschen in geschlossene Räume treibe. „Es kann zu Inzidenzen-Peaks von 100 oder gar darüber kommen.“ Die Nachverfolgung von Kontaktpersonen werde dann sinnlos und soll nach Mitte September heruntergefahren werden.
Zuletzt lag noch keiner der 44 Stadt- und Landkreise im Südwesten über der Schwelle von 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in einer Woche. Mannheim lag am Montag aber bereits bei 34,4, der Main-Tauber-Kreis bei 34, der Kreis Lörrach bei 31,5. Wird dieser Schwellenwert an fünf Tagen in Folge überschritten, müssen nach der aktuellen Verordnung in der Region härtere Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie ergriffen werden. Das hätte Konsequenzen für private und öffentliche Veranstaltungen sowie für die Besucherzahl zum Beispiel in Freizeitparks, Schwimmbädern, Galerien und Museen sowie für Restaurants, den Einzelhandel und Hotels.
Die Sondersitzung des Sozialausschusses war von den Fraktionen der SPD und der FDP beantragt worden, um kurz vor der Ministerpräsidentenkonferenz über die Ziele des Landes zu debattieren. Die Ministerpräsidenten der Länder wollen sich an diesem Dienstag zum weiteren Vorgehen in der Corona-Pandemie abstimmen.
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