Satiremagazin 10 Jahre nach Terrorakt
Das Erbe von „Charlie Hebdo“
Zehn Jahre nach dem mörderischen Anschlag auf die Macher des Magazins bleibt in Frankreich die Frage, wie weit Satire gehen darf, immer noch kontrovers. Die Redaktion selbst steht von allen Seiten unter Druck.
Von Stefan Brändle
Vor genau zehn Jahren kam es zu einem tödlichen islamistischen Anschlag in Paris, der nicht nur Frankreich, sondern ganz Europa und die gesamte westliche Welt in Schockstarre versetzte. Das Massaker in den Redaktionsräumen eines Satiremagazins traf Verfechter von Meinungs- und Pressefreiheit bis ins Mark. Es war zugleich der Beginn einer Welle islamistischer Anschläge in Frankreich, bei der in den Jahren 2015 und 2016 mehr als 250 Menschen getötet wurden. Ein Überblick über die Geschehnisse, die auch heute noch Frankreichs Gesellschaft aufwühlen.
Was geschah am 7. Januar 2015?
Die erste Redaktionssitzung des Jahres endete für das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ in einem Blutbad: Zwölf Menschen, darunter mehrere der bekanntesten Karikaturisten Frankreichs, waren die Opfer. Sie wurden von den Brüdern Said und Cherif Kouachi mit Sturmgewehren kaltblütig erschossen. Die Terroristen drangen völlig unerwartet in die Redaktion ein. Elf weitere Opfer verletzten sie schwer. Frankreich stand noch unter Schock, als der Komplize Amedy Coulibaly am Tag danach eine Polizistin erschoss; einen Tag später brachte er bei einer Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt vier Menschen um.
Die drei Täter, die sich nach eigenen Angaben für blasphemische Mohammed-Karikaturen rächen wollten, wurden am 8. Januar von der Polizei gestellt und erschossen. Wenige Tage später demonstrierten in Frankreich fast vier Millionen Menschen unter dem solidarischen Motto „Je suis Charlie“ – übersetzt: ich bin Charlie. Für Frankreich folgte im November des selben Jahres eine nationale Katastrophe mit Anschlägen in und um der Veranstaltungshalle Bataclan in Paris, ein Terrorakt von bisher ungeahnten Ausmaß mit 130 Toten und rund 400 Verletzten. Im Jahr 2016 tötete ein Amokfahrer in Nizza 86 Menschen, 450 verletzte er teils schwer.
Was ist seither im Karikaturenstreit passiert?
Einen neuen Höhepunkt erreichte der Karikaturenstreit im September 2020, als „Charlie Hebdo“ erneut Zeichnungen des Propheten Mohammed publizierte. Vom Senegal bis Indonesien kam es zu wütenden Protesten; drei Wochen später verletzte ein Pakistaner mit einer Axt zwei Passanten vor der ehemaligen „Charlie“-Redaktion – unwissend, dass diese seit dem Terroranschlag in ein anderes Gebäude umgezogen war. Bei der Vernehmung hatte der Täter Zaher Mahmood erklärt: „Man macht sich nicht über den Propheten lustig.“ Blasphemie, die für „Charlie Hebdo“ zur Meinungsfreiheit gehört, steht in Pakistan unter Todesstrafe. Im Oktober 2020 ermordete und enthauptete ein Tschetschene im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine den Geschichtslehrer Samuel Paty, der im Unterricht die umstrittenen Karikaturen thematisiert hatte. Die Helfer des Täters, darunter auch Schüler von Paty, sind im vergangenen Dezember zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden.
Wie gespannt die Lage von Satirikern immer noch ist, zeigt nicht nur das interne wöchentliche Ringen des Satireheftes um neue Karikaturen. Vor wenigen Tagen bestellte die französische Sonntagszeitung „Tribune du dimanche“ bei einem Charlie-Zeichner eine Karikatur. Behördlicher und verlegerischer Druck verhinderte aber die Veröffentlichung.
Wie steht Charlie Hebdo heute zur Frage nach den Karikaturen?
Das Pariser Satireheft hat seit 2020 keine Mohammed-Karikaturen mehr veröffentlicht. Chefredakteur Laurent Sourisseau, der das Attentat mit einem Schuss in die Schulter überlebt hatte, beklagte in einem Interview, dass die antiklerikale Tradition Frankreichs aussterbe: „Wer demontiert noch die Dogmen der drei monotheistischen Religionen?“ In seiner neusten Ausgabe berichtet „Charlie Hebdo“ zum Beispiel über einen Infiltrationsversuch von „Frömmlern“ in die Behörden der Stadt Toulouse. Auf einer Karikatur wünscht ein bewaffneter Islamist zynisch „gutes Neues Jahr“. Die Redaktion muss sich heute gegen Vorwürfe wehren, sie sei antiislamisch; zugleich wird ihr „Selbstzensur“ vorgeworfen.
Auch zum 10. Jahrestag der Anschläge veröffentlicht die Charlie-Redaktion keine neuen oder alten Mohammed-Zeichnungen. Dafür veranstaltete sie einen Karikatur-Wettbewerb unter dem Motto #RireDeDieu („Lachen über Gott“) – womit sie die Islamfrage auf mehrere Religionen verlagert und so entschärft. In den Dutzenden von Einsendungen erscheint Mohammed nur einmal, ganz klein in der Zeichnung des Belgiers Nico. Seine Bildlegende fragt: „Und wenn ich einen Typen zeichne, der einen Typen zeichnet, der Mohammed zeichnet – geht das?“
Warum steht „Charlie Hebdo“ auch politisch unter Druck?
Die Linke wirft den Charlie-Machern vor, sie hätten ihren Anarcho-Pazifismus, ihre Obrigkeitskritik und ihre geistige Freiheit verloren. „Wo ist der Geist von Charlie?“, fragt der Linksintellektuelle Daniel Schneidermann in einer Streitschrift. Charlie lebe nur noch von seinem „Hass auf den Islam“; sein Einstehen für die Laizität und die religiöse Neutralität des Staates kaschiere reaktionäre und rechte Positionen gegen die Muslime. Schneidermann fühlt sich nicht mehr der Devise „Je suis Charlie“ verbunden, sondern bezichtigt die Redaktion des „Charlismus“. So nannte man im 19. Jahrhundert das Gedankengut des letzten Königs von Frankreich, des Ultrakonservativen Karl X.
In der neusten Charlie-Ausgabe fehlt es allerdings nicht an linken Standpunkten: Emmanuel Macron wird in den Karikaturen gleich neben Donald Trump verballhornt. Tech-Milliardär und Trump-Unterstützer Elon Musk wird mit einer Nazi-Armbinde gezeichnet. Zum Attentat in Magdeburg titelt Charlie: „Die extreme Rechte surft auf den Leichen“.
Warum ist das namhafte Satiremagazin im Niedergang?
Die Polemik um „Charlie Hebdo“ zeigt vor allem, wie sich die in Frankreich sakrosankte Idee des Laizismus – der absoluten Trennung von Religion und Staat – gewandelt hat. In der Vergangenheit war es die Linke gewesen, die vom Staat eine strikte religiöse Unabhängigkeit gegenüber der katholischen Kirche verlangte; heute sehen eher rechte Parteien im Laizismus ein Bollwerk gegen den schleichenden Vormarsch des Islamismus. Das tun allerdings auch linke Intellektuelle wie Caroline Fourest, Elisabeth Badinter oder Marcel Gauchet. Dafür werden sie vom Chef der Linkspartei, Jean-Luc Mélenchon, der Islamophobie bezichtigt.
Von vielen Seiten unter Druck, von Internetmedien abgehängt, kämpft das unflätig-subversive Wochenblatt heute ums Überleben. Seine Auflage, die nicht öffentlich genannt wird, dürfte nicht einmal mehr 30 000 Exemplare erreichen – deutlich weniger als vor dem Terrorakt 2015. Eine deutsche Ausgabe war im November 2016 nach nur einem Jahr mangels Erfolg eingestellt worden.
Wie verhält sich die Pariser Politik zu den Mohammed-Karikaturen?
Die meisten Politiker Frankreichs vermeiden es heute, die Mohammed-Karikaturen zu thematisieren. Hinter vorgehaltener Hand warnen sie vor neuen Attentaten. Zugleich steht die Politik aber zum symbolischen Wert von „Charlie Hebdo“. Das Heft erhält wie andere Medien millionenschwere Finanzhilfen und genießt inhaltliche Narrenfreiheit. So vulgär und provokant die Zeichnungen oft sind – sie gelten als wichtige Stimme im Land.