Walter Liehner, Archivar von Überlingen
Das Gedächtnis der alten Reichstadt
Walter Liehner ist das Papier gewordene Gedächtnis einer ehemaligen Reichsstadt und arbeitet an einem Ort, wo die Uhr langsamer zu gehen scheint. Der 63-Jährige leitet das Archiv von Überlingen.

© Uli Fricker
Liehner sitzt mit seinem Archiv im Herzen der Stadt.
Von Uli Fricker
Es gibt sie noch – die Orte, an denen die Uhr irgendwann aufhört zu ticken und wo die Zeit stillsteht. Auch an diesen Stätten wird gearbeitet, sie leben, Papier raschelt und beginnt zu erzählen. Das Stadtarchiv von Überlingen ist ein solcher Ort.
Haufen aus Pergament oder Papier wohnen hier seit Jahrhunderten. In schweren Schränken, die mit krummen Buchstaben und Signaturen versehen sind, haben sie es sich bequem gemacht. Das Archiv ist mit Böden aus schweren Holzbohlen oder Stein belegt. Ein Kachelofen wärmt den Raum und die Urkunden, die von kalten und heißen Zeiten berichten. Inmitten dieser stummen Zeugen sitzt Walter Liehner an einem sauber aufgeräumten Schreibtisch. Nur der doppelte Bildschirm erinnert daran, dass der Mann im 21. Jahrhundert zuhause ist. Als Archivar dirigiert er dieses Reich mit milder Hand.
Mit zarten 26 Jahren wurde ihm dieses Wächteramt anvertraut. „Das ist aber schon auf Lebenszeit“, bedeuteten ihm die Herren, die ihn im vorigen Jahrhundert einstellten. Das hat ihn damals erschreckt. Auf Lebenszeit! Inzwischen ist Liehner 63 Jahre alt. Ihm ist klar, dass diese Stelle mehr bedeutet als ein Job auf Zeit, den man nach einigen Jahren abwirft, um die nächste Stufe auf der Karriereleiter zu nehmen, deren Sprossen ohnehin brüchig sind. Wie sieht er das? Liehner sinniert längere Zeit, dann sagt er schließlich: „Das habe ich mich nie gefragt.“
Seit 37 Jahren wandelt er zwischen Buchregalen und Urkundenschreinen
Der junge Diplomarchivar kniete sich damals in die Ordnung hinein, die seine Vorgänger hinterließen. Und er ordnete Bestände neu. Immer geht es um das Suchen und das Finden im Archiv. Liehner findet inzwischen alles, was er sucht oder was andere – vom schwarz gekleideten Kunsthistoriker bis zur Vereinschronistin – suchen lassen. Seit 37 Jahren wandelt er zwischen Buchregalen und Urkundenschreinen. Nun zahlt es sich aus. „Jetzt ist Ernte. Das macht einen Archivar aus.“ In den ehrwürdigen Räumen mit allein knapp 4500 Pergamentstückern wirkt er als Alleinunterhalter, der sich über seine Dokumente beugt und durch die Jahrhunderte blättert. Deshalb hat er diesen Beruf ergriffen, der ihn schon als Jugendlicher anfasste. Geschichte anfassen.
In einem Winkel seines Arbeitszimmers hängt ein altes Kruzifix. Ein dürrer Ast klemmt hinter dem Querbalken des Kreuzes, ein kleiner Palmenzweig. „Überlingen war immer katholisch“, erläutert der Katholik Liehner. Da gab es kein Wackeln, auch nicht in der Reformation. Das Kreuz mit dem Korpus des toten Jesus gehört in diese neugotischen Stube, selbstverständlich.
„Dieser Raum ist etwas Besonderes“, sagt er in seinem behaglichen Meßkircher Schwäbisch. Das Winterlicht fällt gedämpft durch die runden Butzenscheiben in den Raum. Schaut man hinaus, dann verschwimmt der Blick auf den Münsterplatz. Vom Schreibtisch aus blickt Liehner direkt auf den Chor des Überlinger Münsters. Dessen Hosianna-Glocke schwingt in Hörweite. Das ist ziemlich viel Mittelalter auf einmal – für Walter Liehner nie zu viel.
Männer seines Schlages stehen mit einem Fuß in der Vergangenheit. Für die Kommune am Bodensee und für die interessierte Bürgerschaft baut er die Brücke in die Vergangenheit. Stößt er einmal im Jahr am Tag des Offenen Denkmals die schweren Tore und holzgerahmten Türen auf, strömen die Menschen herein. Die Räume mit ihrer altertümlichen Verglasung und ihren schweren Archivkisten werden bestaunt. Männer, Frauen, Kinder stehen vor Historie zum Anfassen. Ein vergilbtes Pergament hat eine andere Aura als dasselbe Schriftstück, das digital studiert wird. Forscher oder Laie kommen hier in Kontakt mit dem stofflichen Original.
Den Status einer Kreisstadt mussten die Überlinger vor gut 50 Jahren abgeben, als das größere Friedrichshafen zur Kreisstadt wurde und die Behörden gleich mitnahm. Was bleibt Überlingen mit seinen knapp 25 000 Einwohnern? Die Grandezza einer reichen Geschichte und der Bodensee.
Die Herrlichkeit der Reichsstadt
Die Größe und vor allem das Gefühl von Größe speist sich aus einem Wort mit zwei Silben: Reichsstadt. Bis zur Zerschlagung des Heiligen Römischen Reiches (später mit dem Zusatz Deutscher Nation) führte die Stadt am See diesen stolzen Titel, der mit großen Freiheiten verknüpft war. Die Reichstadt war nur dem Kaiser untertan. Weder die mächtigen geistlichen Nachbarn wie der Abt von Salem oder der Bischof von Konstanz noch der Adel am Bodensee konnten die Überlinger kommandieren. Sie wählten ihren Bürgermeister, der Rat zog Steuern ein, die in der Stadt blieben.
Diese Herrlichkeit endete jäh, als Napoleon die Landkarten neu zeichnete. Überlingen verlor wie alle Reichstädte seine Selbstständigkeit. Vom Stadtstaat wurde es zur badischen Landstadt mit einem Souverän im fernen Karlsruhe, der zudem ein fremd klingendes Alemannisch sprach, was den Seeschwaben kaum verständlich war. „Das Selbstverständnis ist geblieben“, erläutert Walter Liehner, „die ehemaligen Reichstädte behielten ihren Stolz bei.“
Das äußert sich bis heute. Die Stadt begeht zwei Mal im Jahr eine Prozession, weil sie im Dreißigjährigen Krieg zwei Mal die Schweden abwehren konnte. Zwei Mal verhinderten die Mauern das Eindringen der nordischen Großmacht, deren Soldaten gefürchtet waren. Die politische Gemeinde dankt dafür mit einer Prozession, die im Badischen ihresgleichen sucht. Auch Liehner geht diesen rituellen Weg mit, der die Stadt symbolisch umrundet. Er ist Mitglied der Schwertletänzer, einer historischen Formation, die nur Männern vorbehalten ist.
Bis heute huldigen alteingesessene Familien in diesen Gemeinden einem eigenen gewachsenen Geschichtsbild. Neben Überlingen findet man den Stolz auf das Alte auch in den ehemaligen Reichstädten Rottweil oder Esslingen. Sie sind anders, und mancher Alteingesessene meint auch, er sei etwas Besseres. Alle drei Kommunen verbindet eines: Die Archive sind in exponierten Gebäuden untergebracht, die streng betrachtet nicht einmal zweckmäßig sind. Urkunden und Dokumente wären in einem Magazin im Industriegebiet ebenso gut verwahrt.
Münster, Rathaus und Archiv bilden ein Dreieck
Doch ist ein Archiv mehr als technisch korrekte Aufbewahrung. Es ist als Bauwerk selbst ein Träger von Geschichte. Es dient nicht nur der Unterbringung, sondern als ziviles Denkmal, an dem die Vielfalt des alten, friedfertigen und verwirrten Deutschen Reiches gepflegt wird.
Auch deshalb sitzt das Archiv im Herzen der Stadt. Gotisches Münster, Rathaus und Archiv bilden ein Dreieck. Passanten und Touristen kommen vorbei, wenn sie durch die Altstadt streifen. Liehners Dienstsitz ist selbst ein verklärendes Kunstwerk. Obwohl aus der Renaissance stammend, wurde die Einrichtung so gestaltet, dass sie weit ins Mittelalter zurückweist. Die Butzenscheiben, die groben Regale, der historisierende Kachelofen aus dem Jahr 1953 sind Teil einer fein gearbeiteten Kulisse. Das Mittelalter war die goldene Zeit der Seegemeinde, als die Kaiser prächtige Urkunden ausstellten und der Stadt stattliche Privilegien verliehen. Friedrichshafen gab es zu dieser Zeit noch nicht, es erlebte erst während der Industrialisierung seinen steilen Aufstieg.
Walter Liehner passt bestens in dieses Selbstbild einer kleinen, aber feinen Stadt. Er stammt aus dem Hohenzollerischen und ging in Meßkirch zur Schule. Im Lauf der Jahre ist er selbst zu einem Überlinger geworden. Er trägt an diesem Tag ein gut geschnittenes weißes Hemd und eine Tweed-Weste mit fünf Knöpfen. „Die kommt aus Irland“, erläutert er. „Die Bauern dort und der Landadel tragen diese Westen.“ Das ist ihm bei einem Besuch der Insel aufgefallen. Das hat ihm gefallen. Also trägt er auch eine Weste. Sie lässt ihn wirken wie einen halben Kellner und einen halben Lord.
In seinem Arbeitstag ist er tatsächlich beides. Hier Dienstleister, dort Herr seiner Gedanken und Autor von Aufsätzen. So beeindruckend die Kulisse ist, in der das Archiv seit 1913 untergebracht ist: Ihr Chef befasst sich in erster Linie mit den Dingen, die eifrige Amtsmenschen hinterlassen. Bei jedem Schriftstück, das ihm die Verwaltung schickt, fragt er sich: Ist das erhaltenswert oder kann es weg? Durch seine Auswahl entscheidet Walter Liehner auch über das Material, das die Generationen nach ihm einmal betrachten und auswerten. Der Archivar wirkt weit über seine Lebenszeit hinaus.
Schon früher klagte man über zu viel Bürokratie
Noch etwas wird klar in diesem Reich von Papier und Pergament, deren Schreiber längst auf den Friedhöfen der Stadt liegen: Unter einem Wust von Vorschriften litten schon andere Generationen. Bürokratisierung wird nicht erst heute beklagt. Auch die Amtsleute und Räte des Mittelalters schrieben fleißig Protokolle und sie beklagten sich über lange Schriftsätze.
Liehner rollt eine Urkunde aus und glättet sie auf dem Tisch. Sie wurde von Kaiser Karl V. ausgestellt, erklärt er. Man sieht die Unterschrift des legendären Habsburgers, in dessen Reich die Sonne nicht unterging. Nicht alle Stücke sind so prächtig und so gehaltvoll, nicht in allen spricht die große Geschichte. Das hier ist allerdings schon eine Nummer: Kaiser Karl erinnert sich an seine Reichstadt am Nordufer des Bodensee.
Die Arbeit geht nicht aus. Das Archiv konserviert das Alte und nimmt laufend neue Unterlagen auf. In einem Raum liegen Plakate vom jüngsten Wahlkampf auf dem Boden. Im vergangenen November wurde Amtsinhaber Jan Zeitler als Oberbürgermeister bestätigt. „Auch diese Plakate werden wir archivieren“, versichert Liehner. Er weiß nur noch nicht, wann er dazukommt.