Bundesförderung für ein Mahnmal in Ulm

Das letzte Versteck der Weißen Rose

2000 Flugblätter der Weißen Rose frankiert eine konspirative Gruppe im Winter 1943 unter einer Kirchenorgel in Ulm. Zwei der Widerständler werden später zu Nationalisten. Aus dem einstigen Versteck soll nun ein Lernort werden.

Die konspirativ genutzte Orgelstube in der Ulmer Lutherkirche, wie sie schon vor 80 Jahren gewesen ist.

© Rüdiger Bäßler

Die konspirativ genutzte Orgelstube in der Ulmer Lutherkirche, wie sie schon vor 80 Jahren gewesen ist.

Von Rüdiger Bäßler

Wahre Geschichten gibt es, die werden lange verschwiegen, endlich zaghaft erzählt, wieder vergessen – und dann, Jahrzehnte später, beginnt das Erinnern neu. So eine Geschichte ist die dreier junger Leute aus Ulm, Mitglieder der NS-Widerstandsbewegung Weiße Rose, und ihres letzten Verstecks, der Orgelstube, auch Pfeifenkammer genannt, im Turm der evangelischen Lutherkirche. Es waren der Pfarrerssohn, Abiturient und Aushilfsorganist Hans Hirzel, dessen schon in Stuttgart studierende Schwester Susanne Hirzel sowie der Abiturient Franz Josef Müller.

Im Halbdunkel des Wartungsraums unter der großen Walcker-Kirchenorgel kuvertiert und frankiert die konspirative Gruppe, eng verbunden mit Hans und Sophie Scholl, an mehreren Winterabenden im Januar 1943 rund 2000 Exemplare des fünften Flugblatts der Weißen Rose und tippt mit einer Schreibmaschine überwiegend Stuttgarter Adressen aufs Papier, die Telefonbüchern entnommen sind. Zwischendrin, zur Ablenkung, spielt Hans Hirzel immer wieder die Orgel. Per Zug in einem Rucksack bringt er einen Großteil der Briefpacken zur Schwester nach Stuttgart, die die Kuverts nachts in öffentliche Briefkästen wirft. „Freiheit der Rede, Freiheit des Bekenntnisses, Schutz des einzelnen Bürgers vor der Willkür verbrecherischer Gewalttaten, das sind die Grundlagen des neuen Europa“ – so lautet der Schlusssatz des Flugblattes.

Die Ulmer Gruppe kommt mit dem Leben davon

„Die sind wahnsinnig. Alle werden geschnappt werden, wir sind tot, tot! Aber das Flugblatt ist großartig.“ So erinnert sich Susanne Hirzel lange nach Kriegsende an die Gefahren. Im Februar 1943, einen Monat nach der Ulmer Aktion, wird Sophie Scholl verhaftet, als sie Exemplare des sechsten Flugblatts im Lichthof der Münchner Maximilians-Universität von einer Empore wirft. Die Scholl-Geschwister und weitere Beteiligte bezahlen mit dem Leben, die Ulmer Gruppe, ebenfalls vor den Freisler-Gerichtshof gestellt, erhält Hafturteile.

Jetzt, 80 Jahre nach Kriegsende, arbeiten Kreative aus der ganzen Bundesrepublik, die sich in einem im Januar gestarteten Wettbewerb von Gemeinderat und Gesamtkirchengemeinderat vorläufig durchgesetzt haben, an Konzepten für einen „Lernort Weiße Rose“. Bisher gibt es im Treppenhaus des Kirchenturms eine von Schülern gestaltete Ausstellung, angeregt vom früheren Kirchenpfarrer Volker Bleil. Aber touristisch tauglich ist der zurzeit meist verschlossene Turm nicht. Auf einem Parkgelände am Rand der Kirche soll nun, so die Vorstellung, eine „Open-Air-Installation“ errichtet werden. Einzige konkrete Vorgabe dazu: Gruppen sollen sich zum Gespräch versammeln können. „Es muss nicht unbedingt etwas Bauliches sein“, sagt Jochen Aminde vom Ulmer Baudezernat, zuständig fürs Organisatorische. Eine Online-Verknüpfung sei aber fest geplant.

Ein eigener Titel im Bundeshaushalt

Es wird Zeit, findet der Gemeinderat und SPD-Landtagsabgeordnete Martin Rivoir. Er hat auf Lokalebene schon vor rund zehn Jahren Anstöße für den Denkort gegeben, begeisterte schließlich den Biberacher SPD-Bundestagsabgeordneten Martin Gerster, Mitglied des Haushaltsausschusses des Bundes. Und Gerster lieferte: Einen Extra-Haushaltstitel in Höhe von 1,5 Millionen Euro eiste er in der Koalition 2022 für den Lernort Weiße Rose heraus, zu verwalten durch die Bundeszentrale für politische Bildung. „Ich war verwundert und irritiert, dass so ein bedeutendes Dokument des Widerstands so halb versteckt an der Wand hängt“, erinnert er sich an seinen ersten Besuch und in Bezug aufs fünfte Flugblatt.

Für den Ulmer Stadtarchivar Michael Wettengel handelt es sich bei der Orgelstube „um den wahrscheinlich einzigen authentisch erhaltenen Ort des Jugendwiderstandes gegen die NS-Herrschaft“. Nun komme es darauf an, den Lernort so zu gestalten, dass Menschen sich neu interessieren. Die aktuelle Kirchenpfarrerin Britta Stegmaier ist tief in der Materie, glaubt, es komme auf engagierte Erzähler an: „Der Ort ist letztlich nicht wichtig. Die Vermittlung ist das, was Jugendlichen den Aha-Moment schenkt“.

Diverse Projekte in den vergangenen Jahren

Mit dem Lernort lässt Ulm es nicht bewenden. Im vergangenen Jahr eröffnete in der Stadtmitte das Einstein-Familienmuseum, das auch die Ermordung vieler jüdischer Familienmitglieder des in der Stadt geborenen Physikers durch die Nationalsozialisten thematisiert. 2019 ist an der Fassade des Ulmer Landgerichts ein künstlerisches Denkzeichen zur Erinnerung an die Opfer von NS-Zwangssterilisation und Euthanasie-Morden angebracht worden. Ein Jahr später wurde die NS-Vergangenheit des Ulmer Universitätsgründungsrektors Ludwig Heilmeyer aufgearbeitet, als Konsequenz ein Straßenschild mit seinem Namen abgeschraubt.

Diesen April enthüllten Stadtvertreter am Ulmer Humboldt-Gymnasium ein Mahnmal für den kurz vor Kriegsende ermordeten französischen Zwangsarbeiter Francois Joseph Weiss. Er hatte aus einem teilzerstörten Eisenbahnwaggon ein Paar Filzstiefel an sich genommen, war denunziert, von einem Schnellgericht zum Tode verurteilt und an einem Ahorn-Baum beim heutigen Gymnasium aufgehängt worden, um den Hals ein Schild mit der Aufschrift „Plünderer“. Der Ulmer Journalist Rudi Kübler hatte den Fall 2005 zuerst recherchiert und in einem Roman verarbeitet. Der Historiker Andreas Lörcher, Spezialist auch für die Geschichte der Weißen Rose innerhalb der Volkshochschule Ulm, arbeitete den NS-Mord mit Hilfe französischer Archivunterlagen wissenschaftlich auf. „Es gab zahllose solche Fälle“, sagt Lörcher. Meistens fehlten aber Quellenaufzeichnungen. Er lobt die Bereitschaft der Ulmer Stadtverwaltung, sich heute dieses Teils der Vergangenheit aufzuschließen.

Seltsame Wende der einstigen Widerständler

Für die Kulturbürgermeisterin Iris Mann ist städtische Erinnerungskultur gerade in einer Zeit, da die extreme politische Rechte in Deutschland Schlussstriche unter die Geschichte des Dritten Reichs zu ziehen trachtet oder von „Schuldkult“ spricht, existenziell. „Es geht um die Fragen: Wer sind wir? Woher kommen wir? Wie blicken wir in die Zukunft?“

Dass sogar aus Widerstandskämpfern einmal Nationalisten werden können, zeigt die Geschichte um die Ulmer Orgelstube übrigens auch. Spät in ihrem Leben traten Hans und Susanne Hirzel der Partei Republikaner bei, strebten darin jeweils Wahlämter an. Die Aufregung innerhalb informierter Friedenskreise in den 90er Jahren war deshalb groß. Letzte Erklärungen für solche Lebenswendungen hat der Ulmer Stadtarchivar Wettengel nicht. „Manche, die sich damals gegen Hitler wendeten, waren ja keine Demokraten. Die wollten ihren alten Kaiser wiederhaben.“ Der Weg der Hirzels, heißt es aus dem Rathaus, soll zumindest als Fußnote in der Lernort-Beschreibung auftauchen.

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Erstellt:
23. April 2025, 14:56 Uhr

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