Dem Alltag wieder Struktur zurückgeben

Der Bedarf an psychiatrischen und psychotherapeutischen Therapiemöglichkeiten für Kinder und Jugendliche ist gestiegen. Doch im Raum Backnang sind die Wartezeiten lang. Neben der ambulanten Therapie gibt es noch weitere Angebote, die von Hilfesuchenden genutzt werden.

Der Strukturverlust durch die Lockdowns kann ein Faktor sein, der Ängste oder Essstörungen begünstigt. Symbolfoto: Adobe Stock/Vadim

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Der Strukturverlust durch die Lockdowns kann ein Faktor sein, der Ängste oder Essstörungen begünstigt. Symbolfoto: Adobe Stock/Vadim

Von Simone Schneider-Seebeck

Rems-Murr. Neben der ambulanten Therapie gibt es noch weitere Angebote, die von hilfesuchenden Kindern und Jugendlichen und ihren Eltern genutzt werden können.

Die Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Zentrum für Psychiatrie in Winnenden (ZFP) ist eine Außenstelle des Klinikums am Weissenhof in Weinsberg. Die Klinik, die am 1. Dezember 2015 eröffnet wurde, bietet hilfesuchenden Kindern und Jugendlichen und deren Eltern ambulante Therapien und weitere Angebote an. Dies ist auch dringend nötig, denn der Bedarf an psychiatrischen und psychotherapeutischen Therapiemöglichkeiten für Kinder und Jugendliche ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Und die Wartezeiten sind lang.

Es begann schleichend. Morgendliche Bauchschmerzen verhinderten, dass die Betroffenen zur Schule gehen konnten. Schwierigkeiten mit Klassenkameraden? Negativ. Schulnoten? Eigentlich im grünen Bereich. Dennoch traten auf einmal Ängste vor Klassenarbeiten auf.

Dann kamen die Lockdowns. Theresa S., damals in der 7. Klasse, gefielen die Online-Schulstunden eigentlich ganz gut. Als der Schulbesuch wieder regelmäßig vor Ort stattfinden konnte, kamen jedoch auf einmal große Ängste vor schriftlichen Leistungsnachweisen dazu.

Irgendwann konnte sie nicht einmal mehr die öffentlichen Verkehrsmittel benutzen, stieg nicht aus, wenn man sie zur Schule brachte. Und im April war dann auf einmal Schluss – komplette Verweigerung, zur Schule zu gehen. Dabei, so beteuerte sie, wolle sie doch lernen. Einige Wochen später bekam Theresa einen Platz in der Winnender Tagesklinik.

2015 konnte eine vierte Tagesklinikin Winnenden eröffnet werden

„Der Bedarf im Rems-Murr-Kreis war schon immer klar“, erläutert Oberarzt Joachim Diessner. Es habe schon vorher eine Mangelversorgung in diesem Bereich gegeben. Insbesondere der Amoklauf in Winnenden habe jedoch einen Anstoß dazu gegeben, die psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Zu dieser Zeit bestanden bereits Tageskliniken in Heilbronn, Schwäbisch Hall und Ludwigsburg. 2015 konnte die vierte Tagesklinik in den Räumen der Klinik Schloss Winnenden eingerichtet werden.

„Wir wurden mit sehr offenen Armen empfangen“, erinnert sich Diessner, der von Anfang an dabei ist. „Der Bedarf war groß. Das erleben wir bis heute.“ Noch immer sind einige Kolleginnen und Kollegen des Kernteams mit dabei.

Doch was bedeutet Tagesklinik überhaupt? Es handelt sich um eine Kombination aus ambulanter und stationärer Therapie. Die Kinder und Jugendlichen werden täglich durch einen Dienstleister abgeholt und zur Klink gefahren. Absagen werden dabei nicht geduldet. Sofern nicht hohes Fieber vorliegt, hat man zu erscheinen. Denn Fachkräfte, die mögliche Erkrankungen oder Unwohlsein behandeln können, sind ja vor Ort. Wichtig ist hier vor allem, den Tagen wieder eine klare Struktur zu geben. Denn der Strukturverlust, der etwa durch die Lockdowns entstanden ist, kann durchaus ein Faktor sein, der Ängste, Essstörungen und ähnliche psychische Erkrankungen begünstigt.

Am Nachmittag geht es wieder zurück nach Hause

„Viele Jugendliche mit Ängsten waren zunächst durch die Lockdowns entlastet“, erklärt Oberarzt Diessner. Als diese dann vorbei waren und man wieder die Schule besuchen konnte, vergrößerte dies in bestimmten Fällen die entsprechenden Ängste, Schulabsenzen waren die Folge. Wie auch im Fall von Theresa S. Den Tag über werden verschiedene Therapieangebote wahrgenommen. Einzelgespräche, Gruppenangebote, Kunst-, Musik-, Aromatherapie, soziales Kompetenztraining, Sport. Am Nachmittag geht es wieder zurück nach Hause.

Der Besuch der Klinikschule ist ebenfalls essenziell. „Es gibt einen guten und engen Austausch mit der Heimatschule“, erläutert Joachim Diessner. Insbesondere wenn sich der Aufenthalt in der Tagesklinik dem Ende zuneigt, ist dies sehr wichtig. Eltern, Patient, Klassenlehrer der Heimatschule, Lehrer der Klinikschule und der betreuende Therapeut setzen sich zusammen, um die Wiedereingliederung in den Schulalltag zu besprechen. „Der Übergang ist sehr wichtig“, dabei hat Diessner auch beobachtet, dass die Sensibilität für die Probleme und Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler bei den Lehrern durchaus zugenommen habe.

Auch die Eltern werden in die Therapie miteinbezogen. Familiengespräche alle zwei Wochen und auch die Multifamilientherapie (MFT) gehören dazu. Jeweils acht Patienten mit mindestens einem Elternteil treffen sich alle zwei Wochen, insgesamt finden die Treffen fünfmal statt. Diessner sieht dieses Element als einen besonders erfolgreichen Baustein an: „In einem geschützten Rahmen gewinnt man durch das Miteinander und den Austausch mit anderen neue Erkenntnisse.“ Viele Eltern würden sich die Frage stellen, was sie falsch gemacht hätten. „In der Gruppe kommt man zu anderen Themen und weg von der Schuldfrage.“

Es dauert im Schnitt etwa sieben Jahre, bis sich Betroffene Hilfe holen

Oft sei das Thema „psychische Erkrankung“ mit Scham besetzt. „Scham verhindert viel. Wir brauchen die Helfersysteme und die Familien mit in einem Boot“, so Joachim Diessners Appell. Er verweist auf eine erschreckende Zahl. Etwa sieben Jahre dauere es, bis eine betroffene Person mit einer Zwangserkrankung sich Hilfe holt. Daher rät Joachim Diessner, auf Veränderungen bei nahestehenden Personen zu achten, wachsam zu sein, nicht zu lange zu warten, bis man Hilfe in Anspruch nimmt.

Theresa S. besucht mittlerweile wieder die Heimatschule. In ihrer neuen Klasse fühlt sie sich wohl, von den Lehrern hat sie viel Verständnis erfahren. Manchmal noch packt sie morgens die Angst, dann klappt es nicht mit dem ÖPNV. Doch meistens geht es. Sie ist auf einem guten Weg.

13 Therapieplätze und Wartelisten

Tagesklinik Aktuell verfügt die Tagesklinik in Winnenden über 13 Therapieplätze, doch es gibt eine Warteliste. In der Regel dauert ein Aufenthalt etwa drei Monate, doch kann dies auch individuell verschieden sein.

Beratungsstellen Bei den psychologischen Beratungsstellen können sich Kinder und Jugendliche bei Bedarf direkt melden. Eine fachlich fundierte Einschätzung dort kann dabei helfen, ein individuell passendes Therapieangebot zu finden.

Stäb Nicht jede Art der Behandlung passt zu jedem Patienten. Daher hat die Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums am Weissenhof neben stationärer und ambulanter Versorgung noch ein weiteres Angebot, die stationsäquivalente Behandlung (Stäb), angeboten wird sie aktuell in Ludwigsburg. Diese findet zu Hause statt. Der Patient wird täglich, auch am Wochenende, von einem Mitglied des Stäb-Teams besucht. Diese Form ist geeignet bei Patienten, die eigentlich stationär aufgenommen werden müssten, bei denen dies aber aus verschiedenen Gründen nicht umsetzbar ist.

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Erstellt:
3. Januar 2024, 06:00 Uhr

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