Vertrauen in Vernunft und Dialog
Denker der Demokratie: Jürgen Habermas wird 95
Philosophischer Meisterdenker und öffentlicher Intellektueller: In beiden Rollen höchstes Ansehen zu genießen gelingt nur ganz wenigen. Jürgen Habermas ist einer von ihnen. Am 18. Juni wird er 95 Jahre alt.
Von Markus Brauer/AFP/dpa
Jürgen Habermas gilt als einer der wichtigsten deutschen Philosophen der Gegenwart und genießt weltweite Anerkennung. Bekannt ist er aber nicht zuletzt als streitbarer Intellektueller, der sich seit inzwischen rund sieben Jahrzehnten immer wieder in politische Debatten einschaltet. „Öffentliches Engagement“ sei „die wichtigere Aufgabe der Philosophie“, stellte Habermas einmal klar. Am Dienstag (18. Juni) wird der Philosoph und Soziologe 95 Jahre alt.
Ungebrochener Glaube an die Macht der Vernunft
Seine bedeutendsten Schriften wie „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) oder „Theorie des kommunikativen Handelns“ (1981) sind ebenso einflussreich wie anspruchsvoll. Studentenbewegung, Wiedervereinigung, Nato-Einsatz, Terrorismus, Stammzellforschung, Bankenkrise: Habermas’ jeweilige Position in einem Schlagwort zusammenzufassen, würde der Differenziertheit seines Denkens nicht gerecht. Gemeinsam ist all seinen Einlassungen ein positives Menschenbild und der Glaube an die Macht der Vernunft und des gesellschaftlichen Dialogs.
Aus dem bayerischen Starnberg, wo er seit Jahrzehnten lebt, meldet sich Habermas bis heute regelmäßig zu Wort. Ein Mammutwerk wie das im Jahr 2019 erschienene 1775-Seiten-Opus „Auch eine Geschichte der Philosophie“ plane er nicht mehr, sagt der Unermüdliche. Aber immer wieder meldet sich Habermas mit Essays für große Tageszeitungen oder wissenschaftliche Publikationen zu aktuellen Themen zu Wort.
Im Zusammenhang etwa mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine fanden zwei Medien-Beiträge Gehör, in denen der emeritierte Frankfurter Professor für eine rechtzeitige Verhandlungslösung plädierte. Im vergangenen Jahr nannte er die israelische Gegenattacke nach dem Angriff der radikalislamischen Hamas vom Oktober in einem offenen Brief „prinzipiell gerechtfertigt“.
„Für mich war Demokratie das Zauberwort“
Bekannt wurde Jürgen Habermas 1962 mit seiner Habilitationsschrift „Strukturwandel der Öffentlichkeit“, in der er sich mit der frühbürgerlichen Gesellschaft auseinandersetzte. Großen Anklang fanden seine Thesen bei der antiautoritären 68er-Studentenbewegung, zu deren radikalen Vertretern er jedoch bald auf Distanz ging. 1986 löste Habermas den sogenannten Historikerstreit mit aus. Er verteidigte damals die historische Singularität des Holocausts gegen Relativierungsversuche rechtskonservativer Historiker.
Geboren wurde Habermas 1929 in Düsseldorf. Er wuchs in Gummersbach auf. 1949 begann der knapp 20-Jährige sein Philosophiestudium in Göttingen. Die von ihm als autoritär bis lähmend empfundene Nachkriegsgesellschaft ließ ihn früh von einem demokratischen Neuanfang träumen. „Für mich war Demokratie das Zauberwort“, sagte er mit Blick auf seine Studienzeit in einer 2014 beim Suhrkamp-Verlag erschienenen Biografie.
Damit verbunden war seine geistige Hinwendung zum demokratischen Verfassungsstaat der Westmächte, die für sein Denken stets ein Orientierungspunkt blieb. Noch im Zuge des Historikerstreits schrieb er 1986 in der Wochenzeitung „Die Zeit“: „Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens ist die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit.“
Beheimatet in der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule
1956 wurde Habermas Forschungsassistent bei den Vertretern der kritischen Theorie in Frankfurt am Main, Max Horkheimer und Theodor Adorno. Nach einer Professur in Heidelberg übernahm er 1964 Horkheimers Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie an der Universität Frankfurt.
1981 legte er sein Hauptwerk „Theorie des kommunikativen Handelns“ vor. Nach einem Wechsel an das Starnberger Max-Planck-Institut lehrte er ab 1983 wieder als Philosophieprofessor in Frankfurt, wo er 1994 emeritiert wurde.
Neben zeitgeschichtlichen Ereignissen wie dem Kosovo-Krieg oder der Migrationskrise 2015 war es immer wieder auch der Zustand Europas, der Habermas zu Kommentaren, Zwischenrufen oder Mahnungen anregte. Mit Blick auf die Europäische Union kritisierte er wiederholt deren „politische Eliten“ und sprach sich für eine stärkere Einbeziehung der Bevölkerung in den europäischen Einigungsprozess aus. Zudem setzte er sich früh für eine europäische Verfassung ein und unterstrich die Notwendigkeit einer europäischen Öffentlichkeit.
„Avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen“
Was einen Intellektuellen ausmacht, beschrieb Habermas einmal selbst. Der Intellektuelle brauche einen „avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen“, betonte er in seiner Dankesrede zur Verleihung des Bruno-Kreisky-Preises 2006. „Er muss sich zu einem Zeitpunkt über kritische Entwicklungen aufregen können, wenn Andere noch beim business as usual sind.“
Habermas ist seit 1955 mit Ute Wesselhoeft verheiratet. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Seine Tochter, die Historikern Rebekka Habermas, starb 2023 nach schwerer Krankheit.