Der Höhenflug des Zaunkönigs

Nun auch noch der Sieg gegen den FC Bayern! Sebastian Hoeneß hat dem VfB Stuttgart zu einer erstaunlichen Wandlung verholfen.

Szenen eines Feiertags: VfB-Trainer Sebastian Hoeneß löst sein Versprechen ein und besucht die Fans nach dem 3:1-Sieg gegen den FC Bayern in der Kurve auf dem Zaun.

© Baumann

Szenen eines Feiertags: VfB-Trainer Sebastian Hoeneß löst sein Versprechen ein und besucht die Fans nach dem 3:1-Sieg gegen den FC Bayern in der Kurve auf dem Zaun.

Von Dirk Preiß

Stuttgart - Ob er nun zum Zaunkönig taugt? Da hatte Sebastian Hoeneß so seine Zweifel. „Meine Performance“, meinte der Trainer des VfB Stuttgart am Samstagabend, „war nicht die beste.“ Er wisse „ gar nicht, was ich machen soll“, hatte er sich zuvor im Kreise der Fans zudem ahnungslos gegeben. Doch in den rund zwei Stunden zuvor hatten er und sein Team ziemlich genau gewusst, was zu tun ist – und wie man den großen FC Bayern München bezwingen kann. 3:1 lautete das Endergebnis, der VfB hatte verdient gewonnen, und die Fans baten den Trainer dann lautstark um die Einlösung einer schon lange gegebenen Zusage.

Wenn etwas erreicht sei, käme er auch auf den Zaun, hatte Sebastian Hoeneß im Winter erklärt. Nun, da er durch den Sieg über die Bayern die Qualifikation für die Champions League als mindestens Tabellenvierter gesichert hatte, gab er – wohl oder übel – dem Drängen nach. „Ich kam aus der Nummer nicht mehr raus“, sagte er schmunzelnd. Nachdem er in seinem Mittelpunkt-Moment den Fokus clever von sich weggelenkt hatte. „Die haben den Applaus verdient“, rief Hoeneß und zeigte vom Zaun aus auf seine Spieler, „die sind überragend.“

So viel Bescheidenheit kam und kommt an – bei den Fans, den Experten, den Verantwortlichen. Auch bei den Spielern? Nun ja, in den Augen mancher Profis dürfte sich der Coach durchaus ein bisschen mehr abschneiden vom Kuchen der Komplimente.

„Er soll nicht so bescheiden sein“, forderte etwa Deniz Undav, der lobte: „Er findet immer die richtigen Worte.“ 70 bis 80 Prozent des Erfolgs, ergänzte der VfB-Stürmer, gehörten dem Coach. Der – natürlich mit einigen wichtigen Mitstreitern – innerhalb kürzester Zeit einen VfB gebaut hat, den keiner wiedererkennen würde, der mal für ein Jahr die Bundesliga ignoriert hat.

Abstiegskandidat? Gab es diese schier endlose quälende Zeit in den vergangenen zehn, 15 Jahren überhaupt? Ja, die gab es, weshalb die Kurve dem Trainer und der Mannschaft auch entgegenschrie: „Ihr habt den Spaß ins Neckarstadion zurückgebracht.“ Den Song „Nach all der Scheiße geht’s auf die Reise – Stuttgart international“ singen sie eh in Dauerschleife.

Der neue Zaunkönig hat da bisher nie eingestimmt, aber das Erreichen des Europapokals und gar der Königsklasse mit einem extrem guten Gefühl für sein Team vorangetrieben. Hat seine Spieler gefordert, als es noch darum ging, genügend Punkte gegen den Abstieg zu sammeln. Hat ein Nachlassen nie akzeptiert, hat die Mannschaft aber auch geschützt, als schon früh viele rund um den Club nur noch von der Champions League gesprochen haben. „Da war Druck drauf in den vergangenen Wochen“, sagte Hoeneß. Nun ist die Frage: Wie geht es weiter?

Die Ornithologie sieht den Zaunkönig zwar als drittkleinsten Vogel Europas, weil ihm aber auch Schlauheit nachgesagt wird, zweifeln Experten nun nicht daran, dass Sebastian Hoeneß seinen Höhenflug auch in der kommenden Saison fortsetzen kann – dann in der Bundesliga und in der Königsklasse. Man könne davon ausgehen, dass auch die kommende Saison eine gute wird, meinte der Ex-Profi Stefan Effenberg am Sonntagvormittag im „Doppelpass“ bei Sport 1. Und Felix Magath, der ehemalige Stuttgarter Erfolgscoach, sagte: „Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich das ändert. Der VfB kann auch in der Champions League eine gute Rolle spielen.“ Magath übrigens erreichte mit den Weiß-Roten 2003 die Vizemeisterschaft. Die nun wieder drin ist.

Es wäre ein weiterer Meilenstein in einer Saison der besonderen Marken. 64 seiner 73 Tore hat der VfB aus dem Spiel heraus erzielt. Er hat erstmals RB Leipzig in der Bundesliga bezwungen. Zur Ausbeute der Meistersaison 2007 fehlen nur noch drei Punkte. Schon jetzt hat der VfB einen Zähler mehr auf dem Konto als in den vergangenen beiden Spielzeiten zusammen. Eine Steigerung von 34 Punkten von einer Saison zur nächsten ist Bundesliga-Rekord, und 21 Saisonsiege gab es erst zweimal zuvor, der VfB hat vier deutsche Nationalspieler und war zwischendurch mal elf Spiele lang ungeschlagen.

Am Samstag setzte der erste Heimsieg gegen die Bayern durch Tore von Leonidas Stergiou, Woo-yeong Jeong und Silas Katompa (bei einem Gegentreffer von Harry Kane) seit November 2007 der Saison fast schon die Krone auf. Wenn da eben nicht noch dieser zweite Platz nur zwei Punkte entfernt wäre. Der, und das spricht wieder für das gesunde Selbstwertgefühl, das der Coach den Spielern übermittelt, ist nun das neue Ziel der Mannschaft. „Wir haben Bock, am Ende vor den Bayern zu stehen“, sagte Atakan Karazor. Der dann aber auch gleich an seinen Trainer dachte.

Für den sei der Sieg gegen den FC Bayern aufgrund seiner Münchner Vergangenheit „wichtig“ gewesen, meinte der Mittelfeldspieler, „wir sind froh, dass wir ihm diesen Sieg schenken konnten“. Zwei weitere können noch folgen. Am Freitag (20.30 Uhr) in Augsburg und am 18. Mai (15.30 Uhr) gegen Borussia Mönchengladbach. Ist der VfB danach wirklich Vizemeister? Das liegt auch an den Bayern, die noch mal patzen müssten. „Aber ich“, meinte der Torhüter Alexander Nübel, „würde nicht Nein sagen.“ Sebastian Hoeneß vermutlich auch nicht.

Nur die Rolle als Zaunkönig müsste dann wohl ein anderer übernehmen.

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Erstellt:
5. Mai 2024, 22:06 Uhr
Aktualisiert:
6. Mai 2024, 21:49 Uhr

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