Fernzüge der DB
Der ICE 5 bleibt vorerst ein Wunschtraum
Die Deutsche Bahn hat die weitere Flottenmodernisierung verschoben. Der Milliardenauftrag für bis zu 95 neue Fernzüge wird vorerst nicht vergeben. Die Branche rätselt über die Gründe – dabei liegen einige Erklärungen nahe.
Von Thomas Wüpper
In der Industrie und bei Fahrgastverbänden ist die Enttäuschung groß. Seit die Deutsche Bahn AG die Ausschreibung für bis zu 95 neue ICE-Fernzüge überraschend abgebrochen hat, rätseln auch Experten über die wahren Gründe. Man habe „innerhalb der vorgesehenen Frist kein Angebot erhalten, das den Anforderungen der Ausschreibung entspricht“, erklärte der Staatskonzern – was einer Ohrfeige für die führenden Hersteller Siemens und Alstom gleichkommt, die als Favoriten für den Milliardenauftrag galten und Konzepte entwickelt hatten.
Bei der DB wie in der Bahnindustrie sagt man seither zu diesem Thema offiziell am liebsten gar nichts mehr. Dabei wollte Michael Peterson, Chef der zuständigen DB Fernverkehr AG, mit dem „ICE der Zukunft“ völlig neue Maßstäbe setzen. Ab 2032 sollte die fünfte Modellreihe starten, erstmals mit möglichst vielen stufenlosen Einstiegen und einer Höchstgeschwindigkeit von mindestens 300 km/h. Die ersten 33 Züge sollten gleich bestellt werden. Doch daraus wird nun erst mal nichts.
Böttger: Eher schon zu viele Fernzüge
Experten wie Christian Böttger vermuten, dass die schlechte wirtschaftliche Lage des Staatskonzerns und die weiterhin enttäuschende Geschäftsentwicklung wesentliche Ursachen für den vorläufigen Stopp der Flottenerweiterung sind. „Der Fernverkehr hat 2024 offenbar 700 Millionen Euro Umsatz weniger gemacht als im Vorjahr und schreibt rote Zahlen, ich sehe nicht, wie man da in den kommenden Jahren rauskommen will“, analysiert der Berliner Wirtschaftsprofessor.
Überdies kehren manche lukrativen Geschäftskunden der Bahn den Rücken, nicht zuletzt wegen der vielen Baustellen, Verspätungen und Betriebsprobleme. Nach Böttgers Einschätzung hat die DB inzwischen eher zu viele Fernzüge, allein zwischen 2017 und 2023 sei die Zahl der ICE-Garnituren von 260 auf 400 gestiegen. Die Fahrgastzahlen wuchsen auch wegen Corona viel langsamer, die Betriebsleistung an zurückgelegten Zugkilometern schrumpfte 2023 sogar. Das bereits überlastete Schienennetz werde in den nächsten zehn Jahren zudem kaum erweitert, betont Böttger: „Wo sollten noch mehr zusätzliche Züge denn fahren?“
Tempo 300 ohne Neubaustrecken kaum sinnvoll
Auch von der Regierung und Verkehrsminister Volker Wissing gab es bisher zum Abbruch der ICE-5-Ausschreibung wenig zu hören. Dabei war erklärtes Ziel der gescheiterten Ampelkoalition, dass sich die Fahrgastzahlen auf der Schiene bis 2030 mit dem Deutschlandtakt verdoppeln sollen. Doch die Umsetzung dieses Konzepts steht mit dem Ampel-Aus und den vielen ungelösten Finanzierungsfragen inzwischen zu großen Teilen in den Sternen.
„Das D-Takt-Konzept sieht Strecken für 300 km/h vor“, konstatiert Böttger. „Doch wenn keine Impulse für Neubaustrecken kommen, braucht man auch keine neuen Züge für 300 km/h.“ Der Experte rechnet damit, dass die DB AG ihre bisherigen Netz- und Geschwindigkeitskonzepte anpassen könnte – abhängig auch davon, welche Fahrtrichtung die künftige Bundesregierung für die Bahn ausgeben wird.
DB Fernverkehr muss hohe Kredite aufnehmen
Wer die tiefroten Konzernbilanzen etwas näher unter die Lupe nimmt, ist über den plötzlichen Stopp der weiteren Flottenmodernisierung jedenfalls nicht mehr überrascht. Die DB AG fuhr seit Corona insgesamt rund 10 Milliarden Euro Verluste ein, ist mit weit über 30 Milliarden Euro verschuldet und kann ihre Investitionen nicht aus eigener Kraft finanzieren. Die DB Fernverkehr AG mit fast 21 000 Mitarbeitern hat 2023 den Umsatz zwar um 19 Prozent auf 6,1 Milliarden Euro erhöht, unterm Strich stand aber ein Minus von 224 Millionen Euro nach Steuern.
Die Kredite machen es auch für die DB Fernverkehr noch schwerer, wieder in die Gewinnzone zu kommen. Allein 2023 hat sich die Zinslast auf 85 Millionen Euro mehr als verdoppelt. Hinzu kamen die hohen Abschreibungen auf neue Züge, die ebenfalls erst mal verdient werden müssen. Die Anschaffungskosten der gesamten ICE- und Intercity-Flotte wurden Ende 2023 mit 13,2 Milliarden Euro bilanziert, der Buchwert nur mit 6,8 Milliarden – was zeigt, wie betagt viele Züge sind.
Oldtimer ICE 1 soll noch bis 2036 weiterfahren
Die ältesten ICE 1 haben mehr als 15 Millionen Kilometer auf dem Tacho und sind seit 34 Jahren unterwegs. Dennoch kommen die bewährten Oldtimer noch lange nicht aufs Abstellgleis. Im Gegenteil: Ein Austausch ist frühestens 2036 geplant, wie ein DB-Sprecher unserer Redaktion bestätigt: „Anfang 2026 soll die Modernisierung von 58 ICE-1-Zügen abgeschlossen sein, die damit für weitere zehn Betriebsjahre fit gemacht werden.“
Was bedeutet, dass die erste Generation deutscher Hochgeschwindigkeitszüge bis zu 45 Jahre im Einsatz bleiben soll – und damit sehr viel länger als einst geplant. Der bilanzielle Vorteil: Die Fahrzeuge sind längst abgeschrieben. Neue Züge dagegen müssen jedes Jahr analog zur Nutzungsdauer wertberichtigt werden, allein 2023 wuchsen deshalb die Abschreibungen der DB Fernverkehr AG um mehr als 20 Prozent auf 620 Millionen Euro.
Und das ist erst der Anfang. Denn zwischen 2024 und 2031 wollte der Staatskonzern nach bisheriger Planung rund sechs Milliarden Euro in die Erneuerung der ICE-Flotte investieren. So sollte das Durchschnittsalter der Flotte von 18 auf zwölf Jahre sinken. Allein 2023 wurden noch 56 ICE L beim spanischen Hersteller Talgo und 17 weitere ICE 3 neo bei Siemens Mobility geordert – und Fahrzeugkonzepte für die nächste Zuggeneration entwickelt.
Doch nun hat die harte ökonomische Realität die Wunschträume vom ICE 5 vorerst platzen lassen. Verkehrsminister Wissing hat dem DB-Konzern mit dem Sanierungsprogramm S3 eine Rosskur verordnet, bis 2027 sollen sich die Ergebnisse deutlich bessern. Bis dahin werden weitere große Investitionen eher auf die lange Bank geschoben. Bei Vorlaufzeiten von sieben bis acht Jahren für neue Modellreihen könnte die nächste ICE-Generation daher wohl frühestens Mitte des kommenden Jahrzehnts starten.