Der Meister des idyllischen Abgrunds
Seinen satirischen Blick schärfte Tomi Ungerer bei Lehrjahren in Amerika – Jetzt ist der Zeichner im Alter von 87 Jahren gestorben
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Kinderbuchpreise hat man ihm verliehen und Ehrendoktortitel, manche seiner bitterbösen Bildgeschichten aber wurde verboten. Einmal sogar rissen aufgebrachte Feministinnen in einer Ausstellung seine erotischen Zeichnungen von den Wänden. Tomi Ungerer war ein Mann der Gegensätze. Jetzt ist der weltberühmte Illustrator und Autor im Alter von 87 Jahren in der Nacht zum Samstag in Irland gestorben. 1931 kam er als Sohn einer Uhrmacherfamilie in Straßburg zur Welt. Jean Thomas stand in seinem Taufschein, für die Nazis hieß er Johann, für alle anderen Tomi. „Subversiv und pervers“ fanden ihn schon seine Lehrer. Schlimmer noch: Er übe einen „schlechten Einfluss“ auf seine Mitschüler aus, stand im Schulzeugnis. Das sehen die Leser von heute bestimmt anders, die mit „Adelaide, dem fliegenden Känguru“, „Crictor, der guten Schlange“ oder dem eigensinnigen Kater Toby Tatze ihre ersten Lektüre-Erfahrungen machten.
Beim Abitur aber fiel Ungerer durch, trotz der Eins in Kunst. Und weil es auch mit der Kunstakademie nicht klappen wollte, kehrte der 25-Jährige seiner Heimat den Rücken, um nach New York zu ziehen. „Meine Wurzeln“, schreibt er später, „liegen im Elsass, mein Laub nehme ich mit.“ Er heiratete eine Amerikanerin und schlug sich als Werbegrafiker durch, bis sein erstes Kinderbuch im Harper-Verlag zum Überraschungserfolg wurde. Doch auch für Erwachsene griff Ungerer zur Feder, wenn er gallebittere Karikaturen etwa zum Vietnamkrieg zeichnete oder mit beißendem Witz über New Yorks Schickeria herzog. Grund genug für die US-Einwanderungsbehörden, den Künstler auf eine Liste verdächtiger Ausländer zu setzen. Und wer weiß, wo Ungerer gelandet wäre, hätte er nach dem elften September 2001 noch in New York gelebt! Amerikas Oberflächlichkeit und Verlogenheit, erinnerte sich der Spötter aus dem alten Europa mit dem spitzen Griffel, hätten seinen satirischen Blick überhaupt erst geschärft.
Nicht zufällig war es eine Schweinchengeschichte, mit der der französische Aussiedler in den USA einst debütierte, denn Borstenviecher und andere Nutztiere bestimmten auch das zweite Leben des zeichnenden Tausendsassas. 1970 zog er auf ein Anwesen ins kanadische Neuschottland, um als uriger Selbstversorger Vieh zu schlachten und Bier zu brauen. Jahre später entschloss er sich, das raue Landleben in Irland fortzusetzen. Zugleich entdeckte der polyglotte Weltbürger seine Heimat wieder, nahm einen zweiten Wohnsitz in Straßburg, engagierte sich für die deutsch-französische Freundschaft und den Erhalt elsässischer Kultur, von der er selbst ein Teil wurde. Schon zu Lebzeiten schenkte er eine große Auswahl seines rund 40 000 Blätter umfassenden Œuvres der Geburtsstadt.
Ungerers bekannteste und beliebteste Hommage an die französische Oberrheingegend ist wohl „Das große Liederbuch“. Als seien sie pausbäckig-biedermeierlichen Elsassdörfern abgeschaut, muten die Genreszenen an, die Ungerer traditionellen Volksweisen aus mehreren Jahrhunderten zur Seite stellte. Auf Samtpfoten schleicht sich die Ironie hinein, etwa wenn zwei sauffreudigen Alpinisten der Finger Gottes aus den Bergen droht. Dennoch: Wer an den fleißigen Handwerkern, den lodengrünen Jägern und klappernden Mühlrädern des seit 1975 immer wieder aufgelegten Verkaufsschlagers Freude findet, hätte wahrscheinlich nicht gedacht, dass derselbe Zeichner auch ein bizarr-provokantes Erotikon schuf. In der kerkerdunklen Manier eines Goya präsentierte er einer oftmals schockierten Kunstwelt hüllenlos hingegossene Schönheiten, Dominas in Overknee-Stiefeln und schwarzromantische Schmerzlustmaschinen.
Ihre Fortsetzung fand die Ikonografie der harten Liebestouren 1993 in einer Kollektion kostbar-obszöner Accessoires, die der bekennende Erotomane mit dem Stuttgarter Schmuckdesigner Günter Krauss kreierte: Penisanhänger aus rosa Diamanten, Brüste aus Gold, Nippel aus Rubin. Teurer Edelkitsch, aber der Erfinder stand zu seinen Männerfantasien: „Das gibt der künstlerischen Arbeit einen gewissen Sportsgeist.“
Auch als Kinderbuchautor ging es Ungerer nie um pädagogisch korrekte Idyllen. Sein quirliges Tierleben erzählt vom Fressen und Gefressenwerden, von hungrigen Katzen, die sich Konservendosen mit toten Mäusen öffnen. „Ich will den Kindern klarmachen, dass die Welt nicht von Kuscheltieren regiert wird“, sagte Tomi Ungerer.