Der Offenbarungseid als Chance
Experten raten überschuldeten Menschen, einen Antrag auf Insolvenz zu stellen – das ermöglicht einen Neuanfang
Überschuldung - Vor 20 Jahren wurde das Verbraucherinsolvenzverfahren eingeführt. Doch nur wenige Betroffene nutzen diese Möglichkeit. Die EU will nun die Hürden für eine Entschuldung von Unternehmern und Verbrauchern in Finanznöten senken.
Esslingen Es war, als wäre ein Knoten geplatzt.“ Christine Schlüter (Name geändert) hat es getan: Sie hat Privatinsolvenz angemeldet. Jetzt sitzt die 43-Jährige im Büro ihres Anwalts Gerhard Seil in Esslingen und ist vor allem eines: erleichtert.
Das klingt erst einmal seltsam, denn SchlütersSchuldensind noch da. Rund 20 000 Euro haben sich über die Jahre aufgetürmt, in denen sie mit ihrem kranken Sohn allein in Hamburg lebte, als Schlüter die Mahnschreiben irgendwann gar nicht mehr öffnete und ihr ab und zu der Strom abgestellt wurde. Besser wurde es erst, als sie zu ihrem heutigen Partner nach Esslingen zog: „In den letzten Jahren habe ich nicht einen Euro Schulden gemacht“, sagt Schlüter. Aber von den Altlasten kam die Supermarkt-Kassiererin einfach nicht herunter.
Mit der Privatinsolvenz will sie endlich einen Schlussstrich ziehen. Das 1999 eingeführte Verfahren eröffnet Verbrauchern die Möglichkeit auf eine sogenannte Restschuldbefreiung: Wenn sie ihr Vermögen offenlegen, sich zur Abtretung von Teilen ihres Lohns bereit erklären und gewisse Meldepflichten einhalten, wird ihnen nach spätestens sechs Jahren die verbleibende Schuld erlassen.
Doch nur eine Minderheit der Betroffenen stellt einen Insolvenzvertrag. Ende 2018 gab es laut derWirtschaftsauskunftei Creditreform 6,9 Millionen Überschuldete. Rechnet man alle seit 2013 eröffneten Verfahren zusammen – die wegen der Laufzeit von bis zu sechs Jahren theoretisch 2018 noch anhängig gewesen sein könnten –, kommt man auf rund 460 000 Verbraucherinsolvenzen. Hinzu kamen 110000 Verfahren ehemals selbstständiger Privatpersonen. Kurz: Nicht einmal jeder zehnte Überschuldete nutzte 2018 die Chance auf eine Entschuldung via Insolvenzverfahren.
Für Rechtsanwalt Gerhard Seil ist das ein Unding. „Die Insolvenz ermöglicht den Leuten von Gesetzes wegen einen Neustart“, sagt er. „Zudem werden die Menschen vor zumeist weit überhöhten Inkassokosten geschützt.“ Die Gebühren der Inkassofirmen, die von anderen Unternehmen mit der Eintreibung von Forderungen beauftragt werden, treiben den Schuldenstand über die Jahre oft erheblich in die Höhe. Wenn aber ein Insolvenzverfahren eröffnet wird, können die Gläubiger keinen Gerichtsvollzieher mehr schicken, nicht einmal mehr Mahnbriefe. Sie müssen sich an den Insolvenzverwalter halten, der das bisschen, was beim Schuldner zu holen ist, unter allen aufteilt. Der Schuldner muss dafür einen Teil seines Lohnes abtreten – allerdings nur oberhalb eines Freibetrags, der für Alleinstehende bei 1139,99 Euro netto im Monat liegt.
Es gibt natürlich auch Schuldner, die sich ohne Insolvenzverfahren mit ihren Gläubigern einigen. Ein Fünftel der von Schuldnerberatungsstellen behandelten Fälle wird auf diese Weise gelöst, wie aus einer Erhebung des Statistischen Bundesamts aus dem Jahr 2017 hervorgeht. Viele Betroffene begnügen sich nach Aussagen von Schuldnerberatern auch mit einem Pfändungsschutzkonto, das Guthaben bis zu einer gewissen Höhe vor dem Zugriff von Gläubigern schützt. So ein Konto ändert aber nichts daran, dass durch Mahngebühren und Zinsen die Forderungen an den Schuldner immer weiter steigen.
Eine schnelle Lösung scheitert oft auch an der Überlastung der Schuldnerberatungsstellen: Bei der Zentralen Schuldnerberatung Stuttgart (ZSB) betrugen die Wartezeiten in der Vergangenheit oft ein Jahr, inzwischen hat sich die Lage laut ZSB-Leiter Reiner Saleth etwas gebessert. In Notfällen, betont Saleth, könne sein Haus auch kurzfristig helfen: „Wenn jemandem der Strom abgestellt werden soll, bekommt er innerhalb von ein bis zwei Wochen eine Existenzsicherungsberatung.“
Bei auf Insolvenzfälle spezialisierten Anwälten ist der Zugang unkompliziert, dafür kostet die Beratung Geld. Der Esslinger Rechtsanwalt Seil berechnet für die Verhandlungen mit den Gläubigern bis zur Zusammenstellung des Insolvenzantrags 600 bis 800 Euro, zahlbar in Raten von 200 Euro. „Dafür bleiben meinen Klienten nicht nur Wartezeiten erspart, sondern auch zusätzliche Mahngebühren und Zinsen, die sich währenddessen anhäufen“, sagt er. Grundsätzlich besteht die Möglichkeit, für den Termin beim Anwalt Beratungshilfe zu beantragen. Doch viele Gerichte bewilligen diese nur in Ausnahmefällen.
Das eigentliche Insolvenzverfahren übernimmt ein vom Amtsgericht bestellter Insolvenzverwalter. Für seine Arbeit und für das Gerichtsverfahren fallen Kosten an, bei Verbraucherinsolvenzen meist rund 2000 Euro. Sie können auf Antrag gestundet werden, so dass der Schuldner sie erst nach sechs Jahren begleichen muss. Sofern er genug verdient, werden die Verfahrenskosten direkt aus dem gepfändeten Lohn abgestottert. Sind sie nach fünf Jahren beglichen, so können schon zu diesem Zeitpunkt die restlichen Schulden erlassen werden. Eine Restschuldbefreiung nach drei Jahren gelingt bislang nur in Ausnahmefällen, sie soll nach dem Willen der EU zur Regel werden.
Es gibt Schulden, die auch nach einem Insolvenzverfahren fortbestehen: Verbindlichkeiten aus Geldstrafen oder vorsätzlich unterlassenen Unterhaltszahlungen werden nicht erlassen. Für die meisten Gläubiger aber bleibt nach einer Privatinsolvenz wenig bis nichts übrig. „Statt mit den Verfahrenskosten Geld zu verbrennen, sollten alle Seiten stärker auf außergerichtliche Einigungen setzen“, mahnt die Präsidentin des Bundesverbandes Deutscher Inkasso-Unternehmen (BDIU), Kirsten Pedd. Denn wenn sich Schuldner und Gläubiger gütlich auf einen Teilschuldenerlass verständigen, erübrigt sich ein Insolvenzverfahren.
Zwar sind solche Verhandlungen schon heute Pflicht, ehe überhaupt ein Insolvenzantrag gestellt werden kann. Häufig scheitert eine Einigung aber daran, dass alle Gläubiger zustimmen müssten: „Ich habe einen Fall, wo wir eine Rückzahlungsquote von fast 75 Prozent anbieten. Selbst da gibt es noch Gläubiger, die ablehnen“, berichtet Stefan Freeman, Schuldnerberater bei der Diakonie in Esslingen.
Nach Einschätzung Pedds sind die meisten Gläubiger aber durchaus an einer außergerichtlichen Einigung interessiert. Auch hier könne der Gesetzgeber helfen, etwa mit klaren Vorgaben für den Informationsaustausch zwischen Gläubigern und Schuldnern. „Am besten wäre die Einführung eines Standardformulars.“https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.schuldenatlas-fuer-die-region-stuttgart-zahl-der-ueberschuldeten-haushalte-gesunken.429315e0-8594-4264-a9be-83f17627f935.htmlhttps://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.schuldnerberatung-auf-den-fildern-wie-man-der-schuldenfalle-entkommt.178b3327-cbf1-4700-bd00-f280d4b2d8ca.html