Der perfekte Absprung

Marie-Laurence Jungfleisch beendet mit 34 Jahren ihre Karriere: Der Leistungssport hat die Hochspringerin vom VfB Stuttgart geprägt.

Von Jochen Klingovsky

Stuttgart - Der Treffpunkt für das finale Interview lag nahe. Die Württembergische Landesbibliothek ist für Marie-Laurence Jungfleisch zuletzt nicht nur zu einem zweiten Zuhause geworden, es gibt hier auch eine nette Cafeteria. Bei einem großen Cappuccino spricht die Hochspringerin vom VfB Stuttgart über ihr Studium, ihre Familie, ihre Perspektive fürs Leben. Und darüber, warum sie gerade jetzt ihre Karriere beendet.

Der letzte Auftritt der Leichtathletin, die ihre Disziplin in Deutschland ein Jahrzehnt lang geprägt hat, liegt schon etwas zurück. Mitte Juli überquerte sie beim Meeting in Heilbronn 1,83 Meter, wurde Sechste und dachte an die Wettkämpfe zurück, in denen dies ihre Anfangshöhe war. „Das ist schon ein bisschen frustrierend gewesen“, sagt Marie-Laurence Jungfleisch, „mir hat zunehmend der Anreiz gefehlt.“ Vor ein paar Wochen, während eines Urlaubs in Japan, hatte sie dann genügend Freiraum, um nachzudenken und eine Entscheidung zu treffen. „Mit 34 Jahren aufzuhören, ist völlig okay“, erklärt sie, „alles fühlt sich komplett richtig an.“ Wie bei einem perfekten Absprung.

Die Prioritäten von Marie-Laurence Jungfleisch haben sich verschoben. Ihr letztes großes Ziel waren die Olympischen Spiele in ihrer Geburtsstadt Paris. Doch schnell merkte sie, dass es dafür nicht mehr reichen wird. Stattdessen steckte sie viel Energie in ihre Ausbildung. Jungfleisch studiert Grundschullehramt an der PH Ludwigsburg, derzeit schreibt die gelernte Erzieherin ihre Master-Arbeit. Die nötige Ruhe findet sie in der Landesbibliothek. Parallel lief auch die Familienplanung wie erhofft. Marie-Laurence Jungfleisch, die mit ihrem Freund in Bad Cannstatt wohnt, ist im fünften Monat ihrer Schwangerschaft. „Der Leistungssport hat mir viel Selbstbewusstsein, Sicherheit und Zielstrebigkeit gegeben“, sagt sie, „ich bin in dieser Zeit erwachsen geworden. Nun kann ich ohne allzu viel Wehmut gehen.“ Auch weil der Weg immer wieder schmerzhaft war.

2019, als sie bereits die Norm für die WM in Doha geschaffte hatte, zog sich Jungfleisch einen Anriss der linken Achillessehne zu, eine im Hochsprung typische Verletzung. Fortan begleiteten sie Achillessehnenprobleme sowohl links wie rechts, die trotz vieler Therapien nie in den Griff zu bekommen waren. Als Folge davon konnte Marie-Laurence Jungfleisch oft nicht die Elemente trainieren, die notwendig gewesen wären, um immer neue Höhenflüge zu erleben. „Sie kann über ihre Karriere absolut glücklich sein“, sagt Tamas Kiss, der die Hochspringerin erst entdeckte und sie danach 14 Jahre trainierte, „auch wenn sie in der Lage gewesen wäre, zumindest 2,05 Meter zu schaffen.“

Dass es nicht ganz so hoch hinausging, habe letztlich nur an technischen Kleinigkeiten gelegen. Und daran, dass es im Training gesundheitsbedingt immer wieder zu inhaltlichen Einschränkungen kam. „Zufrieden sind wir trotzdem“, erklärt Kiss, „Marie hat sich nicht nur sportlich, sondern auch als Persönlichkeit enorm entwickelt. Ich habe mit ihr die schönste Zeit meiner Trainer-Laufbahn erlebt.“

Die Athletin gibt diese Komplimente gerne zurück („Tamas hat mich geprägt, immer an mich geglaubt, er ist wie ein zweiter Vater“), und selbstverständlich zählen auch für sie vor allem die schönen und erfolgreichen Momente. 2018 sicherte sie sich bei der Heim-EM in Berlin die Bronzemedaille, sie gewann insgesamt 14 DM-Titel, stand bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio und 2021 in Tokio im Finale. 2015 wurde sie in Peking WM-Sechste (es fehlten nur zwei Zentimeter zu Gold) sowie 2017 in London WM-Vierte. Und sie erlebte bei ihrem Lieblingsmeeting in Eberstadt zwei unvergessliche Tage.

2016 sprang die VfB-Athletin dort erstmals 2,00 Meter, im Jahr darauf überquerte sie in der von Weinbergen umgebenen Arena diese magische Marke erneut. „Diese beiden Leistungen sind für mich wichtiger als Titel und Medaillen“, sagt Marie-Laurence Jungfleisch, „ich habe zweimal den perfekten Sprung geschafft, das war etwas ganz Besonderes und sehr emotional – auch weil ich in dem Moment gemerkt habe, dass ich mehr kann, als ich mir zugetraut habe.“ Das Selbstbewusstsein, das daraus erwachsen ist, hat Jungfleisch nicht nur als Sportlerin begleitet, sondern auch als Persönlichkeit geformt. Passend zu ihrem Lebensmotto: „Lache nicht über jemanden, der einen Schritt zurück macht – er könnte Anlauf nehmen.“

Genau das macht Marie-Laurence Jungfleisch jetzt: Sie nimmt Anlauf, um in einen neuen Abschnitt zu starten. Sie wird vielleicht etwas Tempo herausnehmen und die Richtung ein bisschen ändern, aber auch viele Erfahrungen mitnehmen, die sie als Hochspringerin gewonnen hat. „Ich weiß, wer ich bin und welche Ziele ich habe“, sagt Jungfleisch, die mit ihrer Familie 2025 ins Eigenheim in die Nähe ihrer Heimat Freiburg ziehen will, „für die Zeit im Hochleistungssport bin ich sehr dankbar. Sie hat mein Leben nicht nur bestimmt, sondern auch bereichert. Ich würde alles wieder so machen.“

Es ist das Schlusswort des finalen Interviews in der Landesbibliothek in Stuttgart. Danach tauscht Marie-Laurence Jungfleisch die Cappuccino-Tasse gegen die Computer-Tastatur. Das neue Leben hat längst begonnen.

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Erstellt:
17. Dezember 2024, 22:06 Uhr
Aktualisiert:
18. Dezember 2024, 22:05 Uhr

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