Was geschah am . . . 26. Dezember 1957
Der Psychiater Roland Kuhn entdeckt das erste Antidepressivum
Millionen Menschen in Deutschland leiden an einer Depression. Für die Entwicklung von wirksamen Medikamenten gegen diese psychische Erkrankung war der 26. Dezember 1957 ein Meilenstein. Der Schweizer Psychiater Roland Kuhn veröffentlichte an diesem Tag seine Studie zum ersten Antidepressivum: Imipramin.
Von Markus Brauer
Depressionen sind weltweit die am häufigsten auftretende psychische Erkrankung. Das Bundesgesundheitsministerium schätzt, dass bis zu vier Millionen Deutsche davon betroffen sind und fast zehn Millionen Menschen in Deutschland bis zum 65. Lebensjahr mindestens einmal eine Depression durchleiden.
Depressionen und die Biochemie
Biochemisch resultiert die Depression aus einem Wirrwarr von Botenstoffen – sogenannte Neurotransmitter –, die im Gehirn für die Übertragung von Signalen zwischen den Nervenzellen sorgen. Solange ihre Speicher gefüllt sind, läuft der „Motor“ des Gefühlslebens normal.
Bei einer Störung dieses empfindlichen Nervenstoffwechsels aber kann wie aus "heiterem Himmel" eine Depression auftreten. Warum gerade bei Depressiven Produktion und Verteilung der Botenstoffe aus dem Ruder läuft, ist wissenschaftlich bis heute nicht genau geklärt. Neben erblicher Veranlagung sind es etwa schwere Schicksalsschläge wie der Tod eines geliebten Menschen oder die Trennung von einem Partner, die zu einer Depression führen können.
Ära der synthetischen Psychopharmaka
- 1949: Nach dem zweiten Weltkrieg begann die große Ära der synthetischen Psychopharmaka. Den Anfang machte im Jahr 1949 die Entdeckung der sedierenden Wirkung von Lithium. Bei der Lithiumtherapie wird Lithium in Form einiger seiner Salze bei bipolarer Störung, Manie oder Depressionen einerseits als Phasenprophylaktikum, andererseits auch zur Steigerung der Wirksamkeit in Verbindung mit Antidepressiva eingesetzt.
- 1952: Drei Jahre später gab es eine weitere wegweisende Innovation: Die antipsychotische Wirkung von Chlorpromazin (Megaphen®) wurde erkannt. Das Präparat machte endlich die Behandlung schizophrener Patienten möglich. Viele mussten jetzt nicht mehr in Anstalten „verwahrt“ werden.
- 1957: Vor 67 Jahren dann machte der Schweizer Psychiater Roland Kuhn (1912-2005) eine bahnbrechende Entdeckung, welche die Behandlung von Depressionen revolutionieren sollte. Er fand heraus, dass ein Medikament namens Imipramin, das ursprünglich als Schmerzmittel entwickelt wurde, eine spezifische antidepressive Wirkung hatte. Damit war Imipramin das erste Antidepressivum der Welt und der Vorläufer einer ganzen Klasse von Medikamenten, die bis heute eingesetzt werden.
Therapien mit mäßigem Erfolg
Seit 1939 arbeitete Kuhn als Oberarzt in der psychiatrischen Klinik Münsterlingen am Bodensee. Dort behandelte er Patienten mit verschiedenen psychischen Erkrankungen, darunter auch Depressionen. Zu dieser Zeit gab es kaum wirksame Therapien für diese schwere Krankheit. Die meisten Patienten wurden mit Elektroschocks, Insulin-Koma oder Psychoanalyse behandelt – mit mäßigem Erfolg.
Kuhn erforschte neue Medikamente, welche die Stimmung und das Befinden seiner Patienten verbessern könnten. Er begann im Jahr 1956 mit der Erprobung von Imipramin an über 300 Patienten mit unterschiedlichen Diagnosen.
Als Antidepressivum war Imipramin eine Zufallsentdeckung. Kuhn wollte es im Jahre 1957 als Neuroleptikum bei Schizophrenie-Kranken einsetzen. Bei der klinischen Erprobung stellte er fest, dass es für diesen Zweck untauglich war, jedoch gegen depressive Symptome gut wirkte.
Trizyklische Antidepressiva
Imipramin zählt chemisch zur Klasse der Dibenzazepine und ist ein Arzneistoff aus der Gruppe der Trizyklischen Antidepressiva – auch nichtselektive Monoamin-Rückaufnahme-Inhibitoren (NSMRI: englisch: Non selective monoamino reuptake inhibitor) genannt.
Imipramin war der erste moderne Arzneistoff zur Behandlung von Depressionen überhaupt und wurde zum Prototyp einer ganzen Klasse von Psychopharmaka. Er wurde unter der Marke Tofranil auf den deutschen Markt gebracht. Entwickler und Hersteller war der Schweizer Konzern Geigy (heute Novartis); die Markteinführung erfolgte 1958.
- 26. Dezember 1957: Am 6. September 1957 stellt Kuhn sein Mittel Imipramin auf dem 2. Welt-Kongress für Psychiatrie in Zürich vor. Am 26. Dezember 1957 schließlich veröffentlichte der Mediziner in der Schweizerischen Medizinischen Wochenschrift. Dort schrieb er: „Imipramin ist das erste Medikament, das eine spezifische antidepressive Wirkung zeigt, die sich von der allgemeinen tonisierenden Wirkung anderer Psychopharmaka unterscheidet.”
Kuhn nannte Imipramin ein „thymoleptisches“ Medikament, das die Stimmung (griechisch: thymos) stabilisiert. Er schlug vor, dass Imipramin die Wirkung von bestimmten Botenstoffen im Gehirn, wie Serotonin und Noradrenalin, beeinflusst, die für die Regulation der Stimmung verantwortlich sind.
Roland Kuhn gilt als „Vater der Antidepressiva“. Doch dieser Ruhm gründet auf dem Missbrauch Hunderter ahnungsloser Patienten. Betroffene leiden bis heute, Todesfälle wurden nie untersucht.
TZA: Was sind trizyklische Antidepressiva?
Trizyklische Antidepressiva (TZA, Trizyklika) werden so genannt, weil ihre chemische Grundstruktur aus einem Dreiringsystem besteht. Bis heute ist das Trizyklikum Imipramin im klinischen Einsatz. Es hat außerdem Bedeutung als Standard- bzw. Referenzsubstanz für Nachfolgesubstanzen.
Viele weitere trizyklische Antidepressiva folgten auf die Erstsubstanz Imipramin. Zu den bekannten Vertretern zählen unter anderem Amitriptylin (Saroten®), Clomipramin (Anafranil®), Doxepin (Aponal®) und Trimipramin (Stangyl®).
SSRI: Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
Trizyklika hemmen überwiegend nicht-selektiv die Wiederaufnahme der Neurotransmitter Serotonin und Noradrenalin. Daher haben sie auch zahlreiche Nebenwirkungen. Bemühungen um besser verträgliche Antidepressiva führten mit der Zeit zu neuen Substanzgruppen, zum Beispiel den Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI).
Es gebe viele Arzneien, die „wirksam sind, aber nicht allen helfen“, erklärt der Psychiater Andreas Meyer-Lindenberg, Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim. So spreche beispielsweise nur ein Teil der Patienten auf TZA oder SSRI an. Dabei handelt es sich um eine Gruppe von Antidepressiva, die bei diesem Krankheitsbild zu den am häufigsten verschriebenen Medikamenten gehören.
„Zurzeit läuft vieles nach dem Try-and-Error (Versuch und Irrtum)-Prinzip“, erläutert der Molekularbiologe Sven Cichon, Leiter der Medizinischen Genetik des Universitätsspitals Basel. Der Patient nehme so lange Medikamente, bis irgendwann eines hilft. Der Nachteil sei, dass die Medikamente sehr unspezifisch wirkten und daher oft starke Nebenwirkungen hätten.