Dreikönigstreffen der FDP in Stuttgart
Der Ronaldo-Moment des Christian Lindner
Christian Lindner zeigt beim Dreikönigstreffen in Stuttgart einmal mehr: Er ist einer der begabtesten Redner seiner Generation. Doch was macht den Mann aus, der nun ums Überleben der FDP kämpft? Das Porträt eines Mannes, der Rätsel aufgibt.
Von Tobias Peter
Wenn politische Redner etwas herausstellen wollen, dann formen sie oft die Hände zu einer Faust. Oder sie strecken den Zeigefinger raus. Christian Lindner macht an diesem Tag, beim traditionellen Dreikönigstreffen seiner Partei in der Stuttgarter Oper, mehrfach beides gleichzeitig.
Der FDP-Chef spricht druckvoll. Er presst die Sätze aus sich heraus. Er erzählt die Geschichte vom Kanzler, der wie an Karneval Kamelle unters Volk verteilen wolle – auf Kosten der kommenden Generationen. Er ruft: „Wir haben einen Kanzler, der zu wenig kommuniziert und eine Außenministerin, die zu viel spricht.“ Und er spricht über seine Hoffnung auf Schwarz-Gelb. Nur so werde es einen echten Politikwechsel geben. Die CDU nehme immer die Farbe ihres Koalitionspartners an, sagt Lindner. „Die ist ein politisches Chamäleon.“
Christian Lindner beherrscht solche Auftritte sensationell gut. Er ist mit Worten so geschickt wie Cristiano Ronaldo mit dem Ball. So wie der Fußballstar mit Leichtigkeit um Gegner herumtänzelt, kann Lindner in ein, bis zwei Sätzen jedes Gegenargument – unabhängig von seiner Güte – schwach aussehen lassen. Doch der Mann, der lange als einer der begabtesten Politiker seiner Generation galt, könnte bald ein Gescheiterter sein. In Umfragen liegt Lindners Partei vor der Wahl am 23. Februar gerade nur bei drei bis fünf Prozent.
Der Langzeitvorsitzende
Beherrscht Lindner die schönsten technischen Finessen, kann er die besten Tricks vorführen, ist aber für das Mannschaftsspiel auf dem Platz ungeeignet? Kann er rhetorisch brillieren, aber nicht regieren? Das ist die Frage, die im Raum steht, seit die Ampel nach nur drei Jahren zerbrochen ist. Eine Regierung, in der die FDP und ihr mittlerweile entlassener Finanzminister – so sehen es SPD und Grüne – immer wieder aggressiv Opposition gespielt haben.
Christian Lindner, geboren am 7. Januar 1979 in Wuppertal, ist seit Ende 2013 Vorsitzender der FDP. Damit ist er länger im Amt als jeder andere Chef einer Bundestagspartei. Und er steht auch länger an der Spitze der FDP, als Hans-Dietrich Genscher oder Guido Westerwelle es getan haben.
Lindner setzt in der Krise auf klassisches FDP-Programm. Er fordert weniger Staat und einen Mentalitätswandel der Gesellschaft. Er erzählt in Stuttgart die Geschichte vom Baggerfahrer, der gerne zwölf Stunden am Tag arbeiten würde, aber es nach dem Gesetz nicht dürfe. „Warum erlauben wir nicht Menschen zu arbeiten, wenn sie arbeiten wollen?“, ruft er in den Saal. Viel Applaus.
Wer aber ist der Mann, der reden kann wie kaum ein anderer? Lindner, der mit 21 Jahren das erste Mal in den Landtag von Nordrhein-Westfalen gewählt wurde, ist – im Positiven wie im Negativen – auch nach zweieinhalb Jahrzehnten in der Politik noch ein Rätsel. Selbst Journalisten, die ihn lange begleiten, wissen oft nicht sehr viel über den Menschen Lindner. Ein solcher Selbstschutz, der einer Teflon-Beschichtung gleicht, hilft, in der Politik zu überleben. Freundlich lächeln, nicht in sein Innerstes blicken lassen: das alles ist ein Vorteil, wenn jemand im hektischen politischen Betrieb überleben will.
Doch bei Lindner führt es auch dazu, dass nicht wirklich erkennbar ist, ob und welchen politischen Kern er hat, was ihn jenseits von persönlichem Ehrgeiz antreibt. Er neigt ohnehin dazu, viel zu taktieren. Das ist selten so deutlich geworden wie im Jahr 2020, als der FDP-Politiker Thomas Kemmerich – zum Entsetzen großer Teile der Republik – mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten in Thüringen gewählt wurde.
Anders als andere in der Partei wies Christian Lindner Kemmerich nicht sofort in die Schranken. Stattdessen appellierte der FDP-Chef zunächst an CDU, SPD, und Grüne, ein Gesprächsangebot Kemmerichs anzunehmen. Vor dem Hans-Dietrich-Genscher-Haus in Berlin wurde gegen die FDP demonstriert. Auch in der Partei wurde der Widerstand von Stunde zu Stunde stärker. Lindner drehte bei, fuhr nach Erfurt und bewegte Kemmerich zum Rückzug. Wäre es ihm nicht gelungen, er hätte darüber stürzen können.
Vieles in Lindners politischer Biografie erklärt sich aus dem, was er aus dem Sturz Guido Westerwelles gelernt zu haben meint. Er hat riesige Angst, in einer Koalition unter die Räder zu geraten – wie es Westerwelle und der FDP in der Koalition mit Angela Merkel passiert ist. In ihrer Biografie schreibt sie, wie wenig ernst sie die Steuersenkungswünsche Westerwelles in der schwarz-gelben Koalition genommen hat. Lindner will nicht, dass ihm das je passiert.
Das Erfolgsrezept vieler Spitzenpolitiker besteht darin, auf ihrem Stuhl sitzenzubleiben, wenn es eng wird. Lindner ist einer, der schon mehrfach aufgestanden ist. Als Generalsekretär unter dem erfolglosen Vorsitzenden Philipp Rösler ist Lindner zurückgetreten. Er ließ im Jahr 2017 die Verhandlungen über eine Jamaika-Koalition platzen – mit den berühmten Worten: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“
Dann ist da noch das Ende der Ampelkoalition. Es hat ganz sicher damit zu tun, dass es dem Kanzler nicht gelungen ist, mit FDP und Grünen frühzeitig eine gemeinsame Politik für Wege aus der Wirtschaftskrise zu finden. Laut Recherchen der „Zeit“ hat der FDP-Chef das Ende der Koalition aber bereits betrieben, als er öffentlich noch so tat, als suche er nach Lösungen. Lindner beharrt darauf, er sei es doch, der am Ende entlassen worden sei. Olaf Scholz spricht ihm die „sittliche Reife“ für sein Amt ab.
Das Bild vom Pionier
Es gibt eine Szene, die gut beschreibt, wie Lindner sich selbst gern sieht. Sie spielt im nordrhein-westfälischen Landtag im Jahr 2015. Als der FDP-Politiker zum Thema Gründungskultur spricht, ruft ein SPD-Abgeordneter rein, Lindner habe doch Erfahrung darin, wie ein Unternehmen scheitere.
„Ach, das ist ja interessant“, sagt Lindner. „In der Tat, Herr Kollege, in der Hochphase der New Economy habe ich schon mal ein Unternehmen gegründet und dieses Unternehmen war damals nicht erfolgreich.“ Dann entgegnet er: „Heute hat die Ministerpräsidentin gesagt, man solle auch Scheitern von Pionieren nicht lebenslang als Stigma verwenden.“ Lindner streckt den Arm aus und zeigt auf den SPD-Abgeordneten und sagt, dieser Mann sei einer der Gründe, warum junge Menschen die Gründung von Unternehmen scheuten. Er faltet ihn nach allen Regeln der Kunst zusammen. Dann reibt er sich die Hände und schließt sein Jackett. „So, das hat Spaß gemacht.“
Christian Lindner, der Pionier. So will er gesehen werden. Er sei, so sagt es der Chef der FDP zu Beginn seines Auftritts in Stuttgart, „offensichtlich der schlimmste Albtraum des linksgrünen Mainstreams in Deutschland“. Und: Er sei stolz darauf, einmal als Selbstständiger seinen Lebensunterhalt verdient zu haben.
Jetzt muss Lindner daran arbeiten, dass er in den Geschichtsbüchern nicht als derjenige auftaucht, der die FDP in die Bedeutungslosigkeit geführt hat. Es gehe um die Zukunft des Landes, ruft er dem Publikum in Stuttgart zu – und zieht dabei seine druckvolle Stimmen nach oben. „In einem Satz: Es geht um alles. Und deshalb gilt für uns: Jetzt erst recht.“
Lindner lächelt breit in den lauten Applaus hinein. Er winkt in die oberen Ränge. Es ist sein Ronaldo-Moment.