Der Tag, an dem Mays Deal starb

Die britische Regierungschefin erleidet im Parlament eine deutliche Niederlage – und will doch weiterkämpfen

Mit großer Mehrheit stimmt das Unterhaus gegen den Brexit-Vertrag. Nun wächst in der britischenBevölkerung die Sorge vor einem chaotischen EU-Ausstieg.

London Big Bens Zeiger rückten auf 19.39 Uhr vor, als die vier „Tellers“, die Stimmenzähler des Abends, das Ergebnis verkündeten und der Speaker es für alle hörbar wiederholte. Das Unterhaus hatte Theresa Mays Brexit-Deal abgelehnt. Nur 202 Abgeordnete stimmten für den Vertrag, der den Austritt Großbritanniens aus der EU regeln soll und den May mühsam mit Brüssel ausgehandelt hatte. 432 aber votierten gegen den Vertrag.

Einige Vertragsgegner waren außer sich vor Freude über ihren Sieg. Andere saßen eher stumm vor Verwunderung da. May in ihrem blauen Jackett, blass, aber gefasst, war schnell wieder auf den Beinen nach diesem gewaltigen Schlag.

Unbeirrt erklärte sie dem Haus, dass sie nun eben neue Wege verfolgen werde. Zuerst wolle sie aber sicherstellen, dass ihre Regierung noch das Vertrauen des Parlaments genieße. Sie lud die Labour-Opposition ein, am Mittwoch die Vertrauensfrage zu stellen. In seiner atemlosen Art stimmte Labour-Chef Jeremy Corbyn dem sofort zu.

Als wahrhaft historisch hatten die Zusammenkunft dieses Tages Mays Kolleginnen und Kollegen empfunden, die sich zu beiden Seiten der Hohen Kammer auf den grünen Bänken drängten. Begrüßt worden waren die Parlamentarier am Morgen vor dem Parlament von Grüppchen aufgeregter Demonstranten beider Lager. EU-Flaggen und Union-Jacks machten sich den Platz streitig. Lautstarke Chöre suchten einander zu übertönen. „Leave means leave“, Austritt bedeutet Austritt, intonierten zornig die Brexiteers. „Hört endlich mit diesem Brexit-Chaos auf“, gaben ihnen die Proeuropäer zurück, die in ihren blau gestrickten Mützen mit dem Sternenkreis aufgezogen waren. „Es ist UNSERE Zukunft“, verkündeten die Banner der Befürworter eines neuen Referendums: „Lasst UNS entscheiden!“

Die Brexit-Hardliner, die wie ihre Kontrahenten Mays Deal lautstark ablehnten, hatten eine andere Lösung für das Problem parat. Sie fanden, eine Vereinbarung mit der EU sei vollkommen überflüssig: „Kein Deal? Kein Problem.“

Ein weißer Bus, der vorm Parlament auf und ab fuhr, forderte: „Believe in Britain“, setzt euren Glauben in Großbritannien. Ein roter Bus proklamierte: „Niemand hat für einen Brexit gestimmt, der uns ärmer macht und uns aller Selbstbestimmung beraubt.“

Theresa May wiederholte bis zum letzten Moment, dass bei allen Mängeln nur ihr Deal einen „geordneten“ und für die britische Wirtschaft verkraftbaren Austritt aus der EU erlaube, wie ihn „der Volkswille“ verlange. Aber die Zeichen eines klaren Neins zu ihrem Deal waren seit Langem sichtbar.

Schon im vorigen Winter hatten die nordirischen Unionisten, von denen May im Unterhaus abhängt, rebelliert. Mit scharfen Protesten gegen Mays „Chequers-Kompromissplan“ und den spektakulären Rücktritten von Brexit-Minister David Davis und Außenminister Boris Johnson im letzten Sommer deutete sich der Umfang des Problems an. Im Streit über den „Backstop“, die irische Garantieklausel, verlor sich die letzten Hoffnung auf eine Annahme des Deals durch das britische Parlament.

Am Ende erntete May höhnisches Gelächter, als sie ihre Kritiker warnte, auch über sie werde die Nachwelt einmal zu Gericht ­sitzen, „wenn die Geschichtsbücher geschrieben werden“. May, wies der frühere konservative Vizepremier Lord Heseltine diese Schuldzuweisung kühl zurück, habe Chaos angerichtet und dem Land „eine ­Verfassungskrise beschert“.

Bei vielen Briten wächst nun die Sorge, Großbritannien könne in der Nacht zum 30. März ganz ohne Deal aus der EU ausscheiden. Aufmerksam haben sie die sich in letzter Zeit häufenden Warnungen aus der Wirtschaft und die Ankündigungen von Notstandsmaßnahmen durch die Regierung verfolgt. Schon beginnen sich manche Inselbewohner – „für den Fall der Fälle“ – kleine Vorräte an haltbaren Lebensmitteln, an Konserven, an Klopapier, auch an Medikamenten zuzulegen.

Von ersten „Hamsterlisten“ ist überall im Lande zu hören. Einige Lebensmittelketten warnen ihre Kundschaft davor, um Himmels willen nicht mit Panikkäufen erst recht Panik auszulösen.

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Erstellt:
16. Januar 2019, 03:14 Uhr

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