Der Tanzchef schafft den Blitzstart

Von Klassik bis zeitgenössisch: Der neue Intendant Johannes Öhman positioniert das Berliner Staatsballett als buntes Ensemble

Zwischenbilanz - Neunzig Tänzer, die mit dem neuen Chef sehr einverstanden sind: Das ist das Berliner Staatsballett unter der Leitung von Johannes Öhman – und im Sommer stößt noch Sasha Waltz dazu.

Berlin DasStaatsballett Berlintritt auf der Stelle, und das ist gut so. Immer wieder rudert die australische Tänzerin Danielle Muir mit ihren Ellbogen, als wollte sie sich Platz schaffen, während ihr Kollege Johnny McMillan unaufhörlich das Becken vorstößt: vermutlich der einzige Energieschub, der dieser Musik gerecht werden könnte. Ori Lichtik, Tausendsassa der israelischen Techno-Raves, hat sie eigens für „Half Life“ komponiert – als rhythmisches Konstrukt von scheinbarer Einfachheit, das mit der Zeit aber eine solche Kraft entwickelt, dass sich das Ensemble ihrer schlicht nicht mehr erwehren kann.

Die israelische Choreografin Sharon Eyal ist in Stuttgart, seit Gauthier Dance ihr Erfolgsstück „Killer Pig“ für das Programm „Mega Israel“ übernahm, keine Unbekannte mehr. „Half Life“, beim Staatsballett Berlin seit September im Repertoire, hat sie vor knapp zwei Jahren in Stockholm erarbeitet. Eine Übernahme also, aber es ist keine Verlegenheitslösung, sondern vielmehr ein Coup über das rein Choreografische hinaus.

Denn Johannes Öhman, der neue Intendant des Berliner Staatsballetts, war nach dem vorzeitigen Abgang seines Vorgängers Nacho Duato gezwungen, aus dem Stand heraus eine Spielzeit zu bestücken. Und so hat er auf ein Werk zurückgegriffen, das er selbst als Direktor des Königlichen Schwedischen Balletts noch in Auftrag gegeben hat. Das war schnell machbar, brauchte keine Kulissen – und lässt das Publikum dennoch ahnen, wie sich die größte deutsche Tanzkompanie künftig positioniert, wenn zur kommenden Saison seine Kollegin Sasha Waltz das Leitungsteam ergänzen wird: eben nicht nur als ein rein klassisch ausgerichtetes Ensemble, sondern als eine bunt gemischte Gemeinschaft, in der auch weniger genormte Tänzer einen Platz finden können. So wie der bärtige Johnny McMillan. Oder der in jeder Hinsicht herausragende Daniel Norgren-Jensen.

Überhaupt tritt das neue Ensemble, das auf mehr als 90 Tänzer angewachsen ist, erkennbar als Mannschaft auf. Alle wirken einverstanden mit der neuen Leitung, neue Tänzer wie Daniil Simkin ebenso wie die von Nacho Duato übernommenen. Neu in Berlin ist eben auch der Däne Daniel Norgren-Jensen, der in „Half Life“ mit schmerzverzückter Miene immer wieder alle Blicke auf sich zieht – als wäre er ein Heiliger unserer Zeit, gebeutelt von den Schlägen einer motorischen Musik. Dabei unterwirft auch er sich letztlich dem kollektiven Bewegungsdiktat.

Allein Daniela Muir bleibt sich treu mit ihren Marathon-Motionen, während sich ihr Gegenüber inmitten einer sektiererischen Gemeinschaft gänzlich zu verlieren scheint. Es ist ein starkes Stück, scheinbar abstrakt als Widerspiel zwischen Individuum und Masse konzipiert, das aber durchaus auch politische Sachverhalte beinhaltet. Beeindruckt davon zeigen sich bei den Vorstellungen in der Komischen Oper auch die Zuschauer, nicht nur bei der Premiere im September gab es Ovationen im Stehen. Ganz offensichtlich trifft Sharon Eyal den Nerv des vorwiegend jungen Publikums.

Auf jeden Fall zeigt „Half Life“, dass es sich bei der Ballettklassik und dem zeitgenössischen Tanz keineswegs um zwei Parallelkünste handelt, auch wenn sie sich stark voneinander unterscheiden. So interpretiert Daniel Norgren-Jensen zum Beispiel mit größter Selbstverständlichkeit im „Celis/Eyal“-Programm den stärkeren Eyal-Part. Aber auch im Klassiker „La Bayadère“ kann er an der Seite Solors als Krieger auftrumpfen. „La Bayadère“ hat Alexei Ratmansky nach Materialien des historischen Originals von Marius Petipa „rekonstruiert“. Und das heißt: Klassik pur und so auf den Punkt gebracht, wie das heutzutage überhaupt noch möglich ist.

Vieles ist möglich dank der Notate, die sich Nikolai Sergejew 1877 nach der Uraufführung in St. Petersburg gemacht hat. Da, wo es nicht möglich ist, hat sich der ehemalige Direktor des Bolschoi-Balletts nach zahllosen Rekonstruktionen so in die Materie eingearbeitet, dass die Bruchstücke als solche nicht unbedingt mehr erkennbar werden. Vor allem aber hat Ratmansky die Ballettpantomime wieder als eigenständiges Ausdruckselement rehabilitiert. Sie ist ebenso streng ausgeformt wie das Schrittvokabular von Marius Petipa.

Man mag das belächeln, wenn beispielsweise gleich zu Beginn ein Fakir das nachfolgende Geschehen „ausplaudert“. Ernst genommen hat die Gebärdensprache ihren ganz eigenen Reiz, wenn sie mit solcher Präzision erfolgt wie bei Alejandro Virelles, Daniil Simkin oder Marian Walter, die sich in der Hauptrolle des Solor von Vorstellung zu Vorstellung abwechseln. Alle drei schaffen sich vielmehr einen Spielraum, der ein wenig darüber hinwegtröstet, dass die Botschaft erst am Schluss zum Zuge kommt.

Aber „La Bayadère“ ist eben von vornherein ein Ballett für Tänzerinnen, und das nicht nur im „Königreich der Schatten“. Von Jérôme Kaplan vor einem wolkenverhangenen Himalaja-Massiv platziert, können Polina Semionova, Ksenia Ovsyanick und Anna Ol hier ihren poetischen, morbiden Zauber entfalten: ein grandioser Akt eines „Grand Ballet“, der sich in Berlin im Detail durchaus anders darstellt als in Stuttgart – und das betrifft nicht nur die Arabesques penchés auf der verkürzten Serpentine.

Der Vergleich mit den Versionen einer Natalia Makarova oder eines Rudolf Nurejew ist in jeder Hinsicht lehrreich, allein das macht die Aufführung sinnvoll, selbst wenn das Museale irritiert. Das Staatsballett jedenfalls tanzt „La Baya­dère“ so wie zuvor die moderne Alternative „Celis/Eyal“ engagiert und hoch emotionell, und das lässt für die weiteren Premieren der Spielzeit (unter anderem „La Sylphide“ in der Fassung von Frank Andersen) das Beste hoffen. Schließlich will man nur dann auf der Stelle treten, wenn’s die Choreografie erlaubt.

https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.gauthier-dance-mega-israel-ein-intensives-erlebnis.3faaaab9-6d06-4770-b17f-c606fe45f8f2.html

https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.neustart-fuer-das-berliner-staatsballett-mehr-taenze-und-ein-neuer-intendant.8cfb885f-3ae1-4d73-bddf-994d9aec4951.html

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Erstellt:
2. Januar 2019, 03:14 Uhr

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