Deutscher Buchpreis geht an Anne Weber
dpa Frankfurt/Main. Anne Weber hat der alten Form des Epos neues Leben eingehaucht. Ihre Heldin hat sie persönlich kennengelernt. Der mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Roman erzählt nicht nur eine außergewöhnliche Biografie, sondern auch von Europa.
Der beste deutschsprachige Roman des Jahres ist einer alten Dame mit bewegtem Leben gewidmet. „Annette, ein Heldinnenepos“ wurde am Montag in Frankfurt am Main mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.
„Die Kraft von Anne Webers Erzählung kann sich mit der Kraft ihrer Heldin messen“, lautete die Begründung der Jury. Die Auszeichnung ist mit 25 000 Euro dotiert.
In ihrer kurzen Rede bedankte sich die 55 Jahre alte Autorin bei der 96-Jährigen, „die nicht nur die Heldin meines Buches ist, sondern eine wirkliche Heldin“. Aus Aberglaube habe sie keine Dankesrede vorbereitet, sagte Weber, nur eine kleine Trostrede an sich selbst, aber die könne sie nun ja schlecht halten. „Mir ist bewusst, dass der Erfolg des Buchs nicht allein meiner Erfindungs- und Gestaltungsgabe zu verdanken ist, sondern auch dem wirklichen Leben dieser Frau, deren Geschichte ich erzähle.“
Weber hat das Vorbild für ihre „Annette“ bei einer Podiumsdiskussion zufällig kennengelernt und war so beeindruckt, dass sie beschloss, über sie zu schreiben. Der Sieger-Titel aus dem Berliner Verlag Matthes & Seitz erzählt die Lebensgeschichte der französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir - in ungereimten Versen.
Die heute 96-Jährige war Mitglied der kommunistischen Résistance und riskierte ihr Leben, um zwei jüdische Jugendliche zu retten. Nach dem Krieg wurde sie Professorin für Neurophysiologie und bekam drei Kinder. Sie engagierte sich in der algerischen Unabhängigkeitsbewegung und wurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt. Sie floh nach Tunesien, arbeitete als Ärztin und baute später in Algerien das Gesundheitswesen mit auf.
Ihr Verdienst sei es vielleicht gewesen, Anne Beaumanoirs Geschichte „einen Rhythmus gegeben zu haben“, sagte Anne Weber in ihrer Dankesrede. Zu Beginn des Romans schreibt sie: „Es gibt sie, ja, es gibt sie auch woanders als diesen Seiten.“ Ihr Buch sollte keine Biografie werden, berichtete Weber im anschließenden Interview, sondern ihr persönlicher Blick auf dieses Leben. Dennoch habe sie versucht, so wenig wie möglich dazuzuerfinden. Die alte Dame habe der Veröffentlichung zugestimmt, aber gesagt: „Das bin ja gar nicht ich!“
Es sei ein Roman „über Mut, Widerstandskraft und den Kampf um Freiheit“, fand die Jury, eine Geschichte voller Härten, aber mit feiner Ironie erzählt. „Dabei geht es um nichts weniger als die deutsch-französische Geschichte als eine der Grundlagen unseres heutigen Europas.“
Ungewöhnlich ist vor allem die literarische Form: Weber hat für ihr Porträt das Epos neu erfunden. Die Zeit des „Heldenepos“ ist lang vorbei: ein stets männlicher Held, dessen Taten in Versform gerühmt werden, der Klassiker ist die Odyssee. Nun also ein Ruhmes-Text für eine Frau, ein „Heldinnenepos“. Es sei „atemberaubend, wie frisch hier die alte Form des Epos klingt“, fand die Jury.
Anne Weber wurde in Offenbach bei Frankfurt geboren. Nach dem Abitur zog sie nach Frankreich, wo sie bis heute lebt. Sie arbeitete zunächst als Übersetzerin, seit dem Ende der 90er Jahre veröffentlicht sie eigene Texte. Ihre Bücher verfasst sie mal auf Deutsch und mal auf Französisch und übersetzt sie dann selbst in die jeweils andere Sprache. Seit August ist sie Stadtschreiberin von Bergen im gleichnamigen Frankfurter Stadtteil.
Die Verleihung im Frankfurter Römer fand wegen der Corona-Pandemie nahezu ohne Publikum statt. Zuschauer konnten die Verleihung im Fernsehen und im Internet verfolgen.
Die übrigen fünf Autoren der Shortlist erhielten jeweils 2500 Euro: Bov Bjerg („Serpentinen“), Thomas Hettche („Herzfaden“), Deniz Ohde („Streulicht“), Dorothee Elmiger („Aus der Zuckerfabrik“) und Christine Wunnicke („Die Dame mit der bemalten Hand“). Insgesamt hatten die sieben Jurymitglieder mehr als 200 Titel gesichtet.
Der Deutsche Buchpreis wird seit 2005 vergeben. Im vergangenen Jahr hatte Saša Stanišić den Preis für seinen Roman „Herkunft“ erhalten. In seiner Dankesrede griff der aus Bosnien stammende Autor den Literaturnobelpreisträger Peter Handke für dessen Äußerungen über den Jugoslawienkrieg an und entfachte damit eine Literaturdebatte.
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