Deutschland ist auch eine Kunst

Was wollen wir sein, wo wollen wir hin? Deutschland sucht noch immer seinen Weg

Deutschland-Debatte - 30 Jahre Mauerfall, 70 Jahre Grundgesetz – es gibt viel zu feiern und noch mehr zu diskutieren. Auch über den Aufbruch in den 1960er Jahren und über die Rolle der Kunst.30 Jahre Mauerfall, 70 Jahre Grundgesetz – es gibt viel zu feiern und noch mehr zu diskutieren. Auch über den Aufbruch in den 1960er Jahren und über die Rolle der Kunst.

Stuttgart So wenig sich die 1950er Jahre in Deutschland auf Nierentische, ein massives Rollback im Rollenverständnis von und zwischen Männern und Frauen oder auf den VW Käfer reduzieren lassen, taugen die 1960er Jahre als bloßes Sinnbild des Aufbruchs und Ausbruchs aus der Nachkriegsstarre. Und doch ist der Aufbruch nicht nur ein Mythos.

Über alle Gegensätze hinweg verbindet ein Gefühl: Ausweichen geht nicht mehr. Nicht mehr in Blumendekorationen und falsche Heimatseligkeit auf der einen Seite, nicht mehr in abstrakte Weltläufigkeit auf der anderen Seite. Die Realität holt in den 1960er Jahren die Deutschen in West und Ost ein – und folgerichtig wird der Alltag immer stärker Motiv wie Bühne.

Die Kunst spiegelt dies, erzählt davon. Daran erinnert von diesem Freitag an die Ausstellung „Baselitz-Polke-Richter-Kiefer. Die jungen Jahre der Alten Meister“ in der Staatsgalerie Stuttgart. Zur Eröffnung kommt an diesem Donnerstag Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nach Stuttgart. Warum? Diese Künstler, sagt Steinmeier, „haben durch ihr Werk den Blick auf unser Land verändert und tief geprägt. Den Blick aus dem Ausland auf uns in Deutschland – aber eben auch unseren eigenen Blick auf unsere eigene Wirklichkeit, den Blick auf uns selber: wie wir waren, wie wir sind und wie wir sein könnten.“

Götz Adriani, 1974 Gründungsdirektor der Kunsthalle Tübingen, hat die Schau konzipiert. „Seit den 1960er Jahren“, sagt er, „ist die Kunst und nicht mehr der von dem Dichter Paul Célan beschworene Tod zu einem ,Meister aus Deutschland‘ geworden.“ Die Maler Georg Baselitz, Gerhard Richter, Sigmar Polke und Anselm Kiefer haben hieran ihren Anteil. Westdeutsche, Ostdeutsche und deutsch-deutsche Geschichte verbindet sich mit ihnen. „Sie gehörten einer Generation an“, sagt Adriani, selbst 1940 geboren, „die in den Ruinenlandschaften des Nachkriegsdeutschlands weitgehend vaterlos aufwuchs, weil die Väter entweder nicht aus dem Krieg zurückkehrten oder weil sie das Erlebte verdrängten.“

Deutschland – was ist das? Was könnte dies sein? Kritisch, ironisch und sarkastisch suchen die Künstler nach Antworten. Die Geschichte des Landes ist die Geschichte ihrer Familien und umgekehrt. Gerhard Richter zeigt Täter und Opfer Hitler-Deutschlands hinter dem gleichen verwischten Grau, Anselm Kiefer agiert 1968 mit 23 Jahren in betonter Armseligkeit in der Armeekleidung seines Vaters als deutscher Besatzer. In der Provokation geht Kiefer bis zur Schmerzgrenze.

Die Kunst in Deutschland, die Kunst und Deutschland – das bleibt eine schwierige Beziehung. Zweimal lässt sich die Kunst locken: zur Bundestagswahl 1972 und zur Bundestagswahl 1998. Beide Male folgt der Rückzug schnell. Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ von 1969 wird nicht nur von der Antiterrorrealität der 1970er Jahre überlagert. Und Gerhard Schröder lässt die Chance ungenutzt, den Kindern der 1960er Jahre in der möglichen Idee einer ­Berliner Republik eine gesellschaftliche Identität zu bieten.

Und in der Gegenwart? Bleibt die Wirtschaftskraft Kitt einer Gesellschaft, die in einer Glocke realer und irrealer Zukunftsängste verharrt. Der Mut auf neues und betont internationales jüdisches Leben in Deutschland? Ist ebenso verweht wie die Hoffnung, seit den 1970er Jahren geduldete Parallelgesellschaften wieder auflösen zu können oder die Energiewende zu einer Bürgerbewegung zu machen. Deutschland im Frühjahr 2019 – das ist kein Land des Aufbruchs. Warum eigentlich nicht?

nikolai.forstbauer@stuttgarter-nachrichten.de

Zum Artikel

Erstellt:
11. April 2019, 03:12 Uhr

Artikel empfehlen

Artikel Aktionen