Die Erinnerung an den Holocaust wird wachgehalten

Der Heimat- und Kunstverein Backnang hat zu einer Gedenkfeier in der Friedhofkapelle auf dem Stadtfriedhof geladen.

Ernst Hövelborn zeigte in seinem Redebeitrag die erschreckende Effizienz im Vorgehen der Nazis auf. Foto: Tobias Sellmaier

© Tobias Sellmaier

Ernst Hövelborn zeigte in seinem Redebeitrag die erschreckende Effizienz im Vorgehen der Nazis auf. Foto: Tobias Sellmaier

Von Klaus J. Loderer

Backnang. „Es darf nie geschehen, dass historische Ereignisse von solcher Dramatik wie der Holocaust ins Abstrakte verwehen“, mahnte Robert Antretter, der in Backnang lebende frühere Vizepräsident des Europarats, in seinem Schlusswort zur Gedenkfeier, die am Samstagnachmittag in der Friedhofkapelle auf dem Stadtfriedhof stattfand. Der 27. Januar erinnert als Tag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz an den Holocaust. Seit der Renovierung der Friedhofkapelle erinnert der Heimat- und Kunstverein jährlich dort. Nur musste die Veranstaltung wegen der Coronaverordnungen die beiden vergangenen Jahre ausfallen.

Das im Ghetto Wilna (Vilnius) entstandene jüdische Lied „Unter Deinen weißen Sternen“ war eines der Stücke, mit denen die in Tel Aviv geborene und in Stuttgart studierende Sopranistin Danielle Barash die Gedenkfeier in eine Atmosphäre der jüdischen Kultur tauchte. Traurig klangen die jiddischen Weisen und ihre vokalen Improvisationen.

Die Bürokratie des Holocausts

Im Kern der Gedenkveranstaltung standen die Texte, die Ulrich Olpp und Ernst Hövelborn wechselweise vortrugen. Nach den Zeitzeugenberichten der früheren Jahre setzten der Vorsitzende des Heimat- und Kunstvereins und sein Vorgänger den Schwerpunkt anders. Es ging ihnen darum zu zeigen, dass der Holocaust kein Rückschritt in vorzivilisatorische Zeiten, sondern ganz und gar von der Moderne geprägt war. Mit dieser These sorgte vor einigen Jahren der polnische Soziologe Zygmunt Bauman für Aufsehen: „Der Holocaust ist nicht nur eine Wunde der Zivilisation, sondern womöglich auch ihr schreckliches, doch legitimes Produkt.“ So zeigten Olpp und Hövelborn anhand von Texten Baumans einen geradezu gespenstischen Zusammenhang zwischen den Errungenschaften der Industriegesellschaft und der organisatorischen Effizienz der Bürokratie mit dem Holocaust auf. Rationaler Geist und wissenschaftliche Mentalität riefen eine Monstrosität hervor, denn die Ausschaltung moralischer Aspekte war die Grundvoraussetzung rational-effizienten Handelns. Sie zitierten den italienischen Schriftsteller Curzio Malaparte, der die Ordnung als Krankheit des deutschen Volkes bezeichnete. Auch dem fragwürdigen Medizinverständnis der Ärzte, die im Dritten Reich im Zuge der Euthanasie Menschenleben eben gerade nicht erhielten, forschten die Redner nach. Es war ihnen wichtig zu zeigen, dass der deutsche Antisemitismus als alleinige Begründung für den Holocaust zu kurz greift.

Olpp und Hövelborn stellten noch einen weiteren Zusammenhang her, nämlich jenen zwischen Auschwitz und der Schädlingsbekämpfung. Mit der Diskreditierung der Juden als „Schädlinge“ wurde im wörtlichen Sinne eine Vergiftung durchgeführt. Führende Nazis verwendeten immer wieder Begriffe aus der Gartenwelt in Zusammenhang mit dem Holocaust. So ist nach Hövelborn der Garten eben nicht nur eine ideale Welt der Schönheit und Harmonie, eine Welt frommer Innigkeit. Die Gegenseite ist die brachiale Entfernung des Unkrauts, die zum „schönen“ Garten führt. Dieses Bild übertrug Hövelborn auf die Gesellschaft des Dritten Reichs, in dem das „Unkraut“ nicht umerzogen werden konnte, sondern ausgerottet wurde. Immer wieder wurde die Pervertierung eines überzogenen Ordnungssinns und ihr Umschlagen in die Unmenschlichkeit deutlich.

Mahnung für heutige Zeiten

„Damit so etwas nicht mehr passiert, dürfen Dinge nicht übersehen werden, die in diese Richtung führen.“ Robert Antretter machte den Schritt in die Gegenwart und verwahrte sich entschieden gegen das Abgraben von Werten: „Die stille Auszehrung der Menschenwürde ist nicht zu übersehen. Immer werden gute Zwecke vorgeschoben.“ Er hob in seiner Rede deshalb auf den Artikel 1 des Grundgesetzes ab, den zwar keine Institution außer Kraft setzen kann, der aber ausgehöhlt werden kann in einer Welt, die nach dem perfekten Menschen strebt. „Menschlichkeit muss konkret sein“, mahnte Antretter und schloss mit der Frage: „Wie weit geht es, wenn Menschlichkeit auf dem Spiel steht?“

Informationsmaterial zum Holocaust hatte Albrecht Oethinger mitgebracht. Er hatte 2013 bei einer Reise nach Polen die Auschwitz-Überlebende Lydia Maksymoevia kennengelernt und über sie zwei Ausstellungstafeln angefertigt, die nun in der Friedhofkapelle zu sehen waren.

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Erstellt:
30. Januar 2023, 06:00 Uhr

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